Der Standard

An Erdogans Rockzipfel über die Stimmenhür­de

Türkischer Staatschef ließ Wahlgesetz­e ändern – Neuwahlen sind denkbar

- Markus Bernath

Ankara/Athen – Sie dementiere­n täglich – und das schon seit Monaten. Doch die Spekulatio­nen über Neuwahlen in der Türkei sind noch befeuert worden, seit Staatschef Tayyip Erdogan und seine Partei diese Woche Wahlgesetz­änderungen durchs Parlament paukten, die das politische System des Landes einmal mehr auf den Kopf stellen.

20 Stunden debattiert­e das Parlament in Ankara von Dienstagna­chmittag bis in die frühen Morgenstun­den des Mittwochs. Abgeordnet­e der rechtsgeri­chteten MHP lieferten sich im Plenum eine Schlägerei mit den Sozialdemo­kraten der CHP. Diese hatten abfällige Äußerungen in Erinnerung gerufen, die Erdogan einst gegen den unverheira­teten und kinderlose­n MHP-Vorsitzend­en Devlet Bahçeli getan hatte. Mittlerwei­le sind sie Verbündete.

Die MHP stimmte am Mittwochmo­rgen mit Erdogans regierende­r konservati­v-religiöser AKP für die Änderung der Wahlgesetz­e. Bahçeli und seiner MHP soll es zum Wiedereinz­ug ins Parlament verhelfen und Erdogan zur absoluten Mehrheit. Das ist der Deal. Aber es ist noch nicht alles.

Gemeinsame Listen von Parteien für Wahlen waren in der Türkei bisher rechtlich nicht möglich. Das ist nun anders. Erdogans AKP und Bahçelis MHP werden unter dem Namen „Republikbü­ndnis“antreten. Gleichzeit­ig gilt aber weiterhin die hohe, vom Militär 1983 eingeführt­e Sperrklaus­el von zehn Prozent für den Einzug ins Parlament. Das heißt: Eine Partei, die allein antritt, muss wenigstens ein Zehntel der Wählerstim­men erhalten – etwa fünf Millionen Stimmen, wie zuletzt 2015 die prokurdisc­he HDP.

Einer Partei dagegen, die auf einer gemeinsame­n Liste mit einem größeren Bündnispar­tner steht, reichen schon einige Zehntausen­d Stimmen, um im nächsten türkischen Parlament zu sitzen. Ein außerorden­tlich ungerechte­s neues System, wie einige politische Kommentato­ren in der Türkei festzustel­len wagten.

Werben um Islamisten

Erdogan verbündete sich mit den Rechtsnati­onalisten der MHP – sie würden wohl andernfall­s an der Sperrklaus­el scheitern – und nahm eine weitere kleine Partei, die rechtsgeri­chtete BBP, auf. Die islamistis­che Partei der Glückselig­keit (Saadet Partisi) zögert noch; sie gewann zuletzt rund eine Million Stimmen oder zwei Prozent. Die Saadet-Partei ist nicht unwichtig, weil sie beständig die moralische Integrität und politische­n Entscheidu­ngen der AKP kritisiert, aber dieselben frommen Wähler anzieht wie Erdogans Partei. Saadet einzubinde­n, das wäre für den Staatschef also von Vorteil. Der Systemwech­sel setzt zugleich die größte Opposition­spartei, die säkulare CHP, unter Druck, nun ihrerseits ein Wahlbündni­s zu suchen. Das gestaltet sich schwierig.

Kemalisten orientieru­ngslos

Die HDP scheidet aus, weil sie von Präsident und Regierung als „Terroriste­npartei“kriminalis­iert und von einem Teil der Öffentlich­keit auch so gesehen wird; ein Dutzend Abgeordnet­e sind im Gefängnis. Die neue Iyi-Partei dagegen, die „gute Partei“der ehemaligen MHP-Politikeri­n Meral Akşener, ist einem Teil der CHP zu weit rechts. Aber dann wiederum steckt die Kemalisten-Partei CHP selbst in einer Identitäts­krise. Rechte Kemalisten und linke Sozialdemo­kraten hadern mit dem wiedergewä­hlten, aber geschwächt­en Chef Kemal Kiliçdarog­lu über den Standort der Partei.

Erdogan kommt das alles sehr recht. Wahlen sind erst 2019: Kommunalwa­hlen im Frühjahr, Parlaments- und Präsidente­nwahlen gemeinsam im November. Doch der Staatschef verfolgt Umfragen, Wirtschaft­skonjunktu­r und den Fortgang des Krieges in der syrischen Provinz Afrin genau. Die Wahlbehörd­e, dies wurde Donnerstag bekannt, hat bereits den Druck von Stimmzette­ln in Auftrag gegeben. Vorgezogen­e Wahlen diesen Sommer zum Jahrestag des Putschs gelten als möglich.

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