An Erdogans Rockzipfel über die Stimmenhürde
Türkischer Staatschef ließ Wahlgesetze ändern – Neuwahlen sind denkbar
Ankara/Athen – Sie dementieren täglich – und das schon seit Monaten. Doch die Spekulationen über Neuwahlen in der Türkei sind noch befeuert worden, seit Staatschef Tayyip Erdogan und seine Partei diese Woche Wahlgesetzänderungen durchs Parlament paukten, die das politische System des Landes einmal mehr auf den Kopf stellen.
20 Stunden debattierte das Parlament in Ankara von Dienstagnachmittag bis in die frühen Morgenstunden des Mittwochs. Abgeordnete der rechtsgerichteten MHP lieferten sich im Plenum eine Schlägerei mit den Sozialdemokraten der CHP. Diese hatten abfällige Äußerungen in Erinnerung gerufen, die Erdogan einst gegen den unverheirateten und kinderlosen MHP-Vorsitzenden Devlet Bahçeli getan hatte. Mittlerweile sind sie Verbündete.
Die MHP stimmte am Mittwochmorgen mit Erdogans regierender konservativ-religiöser AKP für die Änderung der Wahlgesetze. Bahçeli und seiner MHP soll es zum Wiedereinzug ins Parlament verhelfen und Erdogan zur absoluten Mehrheit. Das ist der Deal. Aber es ist noch nicht alles.
Gemeinsame Listen von Parteien für Wahlen waren in der Türkei bisher rechtlich nicht möglich. Das ist nun anders. Erdogans AKP und Bahçelis MHP werden unter dem Namen „Republikbündnis“antreten. Gleichzeitig gilt aber weiterhin die hohe, vom Militär 1983 eingeführte Sperrklausel von zehn Prozent für den Einzug ins Parlament. Das heißt: Eine Partei, die allein antritt, muss wenigstens ein Zehntel der Wählerstimmen erhalten – etwa fünf Millionen Stimmen, wie zuletzt 2015 die prokurdische HDP.
Einer Partei dagegen, die auf einer gemeinsamen Liste mit einem größeren Bündnispartner steht, reichen schon einige Zehntausend Stimmen, um im nächsten türkischen Parlament zu sitzen. Ein außerordentlich ungerechtes neues System, wie einige politische Kommentatoren in der Türkei festzustellen wagten.
Werben um Islamisten
Erdogan verbündete sich mit den Rechtsnationalisten der MHP – sie würden wohl andernfalls an der Sperrklausel scheitern – und nahm eine weitere kleine Partei, die rechtsgerichtete BBP, auf. Die islamistische Partei der Glückseligkeit (Saadet Partisi) zögert noch; sie gewann zuletzt rund eine Million Stimmen oder zwei Prozent. Die Saadet-Partei ist nicht unwichtig, weil sie beständig die moralische Integrität und politischen Entscheidungen der AKP kritisiert, aber dieselben frommen Wähler anzieht wie Erdogans Partei. Saadet einzubinden, das wäre für den Staatschef also von Vorteil. Der Systemwechsel setzt zugleich die größte Oppositionspartei, die säkulare CHP, unter Druck, nun ihrerseits ein Wahlbündnis zu suchen. Das gestaltet sich schwierig.
Kemalisten orientierungslos
Die HDP scheidet aus, weil sie von Präsident und Regierung als „Terroristenpartei“kriminalisiert und von einem Teil der Öffentlichkeit auch so gesehen wird; ein Dutzend Abgeordnete sind im Gefängnis. Die neue Iyi-Partei dagegen, die „gute Partei“der ehemaligen MHP-Politikerin Meral Akşener, ist einem Teil der CHP zu weit rechts. Aber dann wiederum steckt die Kemalisten-Partei CHP selbst in einer Identitätskrise. Rechte Kemalisten und linke Sozialdemokraten hadern mit dem wiedergewählten, aber geschwächten Chef Kemal Kiliçdaroglu über den Standort der Partei.
Erdogan kommt das alles sehr recht. Wahlen sind erst 2019: Kommunalwahlen im Frühjahr, Parlaments- und Präsidentenwahlen gemeinsam im November. Doch der Staatschef verfolgt Umfragen, Wirtschaftskonjunktur und den Fortgang des Krieges in der syrischen Provinz Afrin genau. Die Wahlbehörde, dies wurde Donnerstag bekannt, hat bereits den Druck von Stimmzetteln in Auftrag gegeben. Vorgezogene Wahlen diesen Sommer zum Jahrestag des Putschs gelten als möglich.