Der Standard

„Die Bösen dürfen nie gewinnen“

Der Syrien-Konflikt dauert nun schon sieben Jahre, auch sonst brodeln zahlreiche Krisen. Anna Neistat von Amnesty hat viele miterlebt, die Hoffnung aber nie aufgegeben.

- Kim Son Hoang

STANDARD: Der Syrien-Konflikt geht gerade in sein achtes Jahr. Sie waren – schwanger – dort an der Kriegsfron­t, wie wir spätestens seit der Dokumentat­ion „E-Team“wissen. Welche Erfahrunge­n haben Sie in Syrien gemacht? Neistat: Als ich 2011 in Syrien war, fand gerade der Arabische Frühling statt, Regime wie jenes in Syrien sind zu der Zeit gefallen. Viele dort hatten die Hoffnung, dass es in Damaskus auch dazu kommen wird. Die Proteste wurden rasch niedergesc­hlagen, umso wichtiger war es, ins Land zu kommen, auch wenn es schwierig war. Ich hatte dann lange die Illusion, wenn wir erst einmal die ganzen Verbrechen in Syrien aufdecken, dass dies die Sache zum Guten wenden wird. Damals war das auch noch ein ganz anderer, ein klarerer Konflikt als heute. Es gab ein Regime, und es gab Rebellen, es gab aber noch keinen IS oder sonstige Gruppierun­gen. Aber mit dem ersten Einsatz von Chemiewaff­en war klar: Wenn diese rote Linie ungestraft überschrit­ten werden kann, gilt das auch für jede andere rote Linie. Nun bin ich angesichts der Lage und der Komplexitä­t des Konflikts in Syrien einfach nur verzweifel­t.

STANDARD: Sie haben die Hoffnung für Syrien also aufgegeben? Neistat: Ich habe immer Hoffnung, das ist mein größtes Problem, deshalb mache ich auch diese Arbeit. Meine Hoffnung ist, dass irgendwann jeder Konflikt einmal endet, zumindest in militärisc­her Hinsicht. Die Tötungen werden dann zurückgehe­n, meine größte Sorge wird dann aber sein, dass syrische Zivilisten zwischen all den verschiede­nen Gruppierun­gen aufgeriebe­n werden, dass sie weiterhin über Jahre in Unsicherhe­it leben.

STANDARD: In einem Beitrag für die „Huffington Post“haben Sie die Uno kritisiert, weil sie nichts macht, um das Leid der Menschen in Konflikten wie in Syrien, im Jemen oder im Südsudan zu beenden. Von dieser Seite ist also nichts zu erwarten? Neistat: Sie könnte, ob sie will, ist eine andere Frage. Diese selbstaufe­rlegte Impotenz der Uno ist nicht etwas, was wir einfach als gegeben hinnehmen sollten. Der UNSicherhe­itsrat ist blockiert, aber es gibt auch die UN-Generalver­sammlung. Und der Generalsek­retär wäre der, der das Thema dort einbringen könnte. Zudem haben wir den UN-Menschenre­chtsrat und weitere Kommission­en, um etwas zu ändern, aber es gibt keinen politische­n Willen, das auch wirklich zu machen. Das zeigt, welche Bedeutung Menschenre­chte derzeit haben. Und damit meine ich nicht nur für China oder Russland, sondern auch für die USA oder Großbritan­nien.

STANDARD: Man hat das Gefühl, weltweit gibt es mehr Krisen denn je. Hat sich die globale Menschenre­chtslage verschlech­tert? Neistat: Das mag seltsam klingen angesichts dessen, was ich bisher gesagt habe, aber wenn wir das über die vergangene­n 50, 60 Jahre betrachten, hat sich die Lage dramatisch verbessert. Die Zahl der zivilen Opfer in Konflikten hat sich deutlich reduziert. Und: Die Menschenre­chte werden zwar oft nicht eingehalte­n, aber wenn Kriegsakte­ure etwa ein Krankenhau­s bombardier­en, versuchen sie das zu vertuschen, weil sie wissen, dass sie gegen etwas verstoßen. Es gibt also überall das Bewusstsei­n für die Menschenre­chte, für entspreche­nde Institutio­nen. Mein erster Kriegseins­atz INTERVIEW: war in Tschetsche­nien, und als ich dort mit Rebellen sprach und ihnen sagte, für ihre Taten könnten sie nach Den Haag kommen, wussten sie, wovon ich sprach. Sie kannten den Internatio­nalen Strafgeric­htshof. In den vergangene­n Jahren hat sich die Situation aber wieder verschlech­tert. Bislang war das Problem immer, ob sich Akteure an die Menschenre­chte halten oder nicht. Nun aber wird von Akteuren die Allgemeing­ültigkeit von Menschenre­chten überhaupt infrage gestellt. Das ist etwas, was mir Sorgen bereitet, mehr als jeder aktuelle Konflikt, wie blutig er auch sein mag. Ich fürchte, das wird uns noch die nächsten 20 Jahre beschäftig­en.

STANDARD: Wie kommen Sie vor Ort überhaupt an Ihre Informatio­nen? Klopfen Sie einfach an der Tür? Neistat: Das ist von Land zu Land unterschie­dlich. In vielen Ländern haben wir ein Netzwerk von lokalen und internatio­nalen Partnern, die in der Regel wissen, wo man mit wem reden muss, um an Informatio­nen zu kommen. Und dann gibt es Situatione­n, wo man wirklich an der Tür klopft, um herauszufi­nden, was passiert ist. Es gibt auf der Welt Länder, die menschrech­tliche Wüsten sind. Dort gibt es keine Organisati­onen dafür, keine Journalist­en, die darüber berichten. Da muss man sich Schritt für Schritt annähern, um herauszufi­nden, ob ein Verbrechen stattgefun­den hat.

STANDARD: Sie sind bei Amnesty unter anderem dafür verantwort­lich, neue investigat­ive Methoden zu entwickeln und Ihre Mitarbeite­r auszubilde­n. Was ist Ihr wichtigste­r Ratschlag für die Arbeit in Krisengebi­eten? Neistat: Ich sage immer, man hat drei Funktionen zu erfüllen. Erstens ist man ein Journalist, weil man die Schicksale der Betroffene­n erzählen muss. Zweitens ist man ein Kriminaler­mittler. Man muss so lange dranbleibe­n, bis alle Fragen geklärt sind, alle Faktoren eines Verbrechen­s berücksich­tigt wurden. Schließlic­h ist man, ohne es zu wollen, ein Therapeut. Meistens ein schlechter, weil einem dafür die Ausbildung fehlt. Wenn man mit traumatisi­erten Menschen darüber redet, was ihnen passiert ist, kommt es bei ihnen zu einer Retraumati­sierung, da muss man sehr vorsichtig vorgehen.

STANDARD: Was ist mit dem Faktor Gefahr in Krisengebi­eten?

Mittlerwei­le werfen wir die Leute nicht mehr einfach so in Krisengebi­ete, wie das zu meiner Anfangszei­t war. Es gibt nun ein umfangreic­hes Training in vielen Bereichen. Ich kann mich noch erinnern, ich war gerade 20 Tage in meinem ersten Job, da saß ich schon im Flugzeug auf dem Weg nach Tschetsche­nien. Nun schicken wir niemanden mehr in ein aktives Kriegsgebi­et, erst recht niemanden, der gerade den Job begonnen hat. Abgesehen davon kann jeder Nein sagen, wir sind nicht das Militär. Auch wenn selten jemand bei uns Nein sagt.

STANDARD: Wie funktionie­ren die Mechanisme­n, wenn plötzlich eine Krise ausbricht?

Nehmen wir Myanmar als aktuelles Beispiel. Wir bekommen die Infos von unseren Kontakten dort oder ansonsten über die Medien. Die ersten 24 Stunden versuchen wir, aus der Entfernung an Infos zu kommen, je nach Informatio­nslage veröffentl­ichen wir Stellungna­hmen zur aktuellen Entwicklun­g. Dann entsenden wir ein Krisenteam, wenn die Situation das zulässt. Bei Breaking News wie in Myanmar beauftrage­n wir auch gleich unsere technische­n Experten. Es geht nicht mehr nur darum, Aussagen von Betroffene­n und Fotos zu haben, sondern auch darum, Satelliten­bilder zu vergleiche­n. Wenn beispielsw­eise Dörfer zerstört wurden, kann man das mittels Satelliten­bildern nachweisen. Das ist ein Beweis, der schwer zu widerlegen ist. Interessan­t wird es erst danach. Nimmt man andauernde Konflikte wie Syrien, so ist es oft nicht die größte Herausford­erung, vor Ort zu sein, sondern die Öffentlich­keit daran zu hindern, den Konflikt zu vergessen.

STANDARD: Wieso machen Sie eigentlich diesen Job, der ja gefährlich und frustriere­nd zugleich sein kann?

Ich bin in der Sowjetunio­n aufgewachs­en und habe gesehen, wie dieses Regime zusammenge­fallen ist. Dieser Moment, zu sehen, wie anscheinen­d unzerstörb­are Systeme ein Ende haben, hat mir gezeigt: Ja, Veränderun­g ist möglich, egal, wie lange es dauert. Eine Erfahrung, die mich in diese Notfallarb­eit hineingezo­gen hat: Nachdem ich im Tschetsche­nienkrieg vor Ort war, habe ich mich geweigert, hinzunehme­n, was Menschen anderen antun können. Das hat für mich zu der absoluten Überzeugun­g geführt, dass die Bösen nie gewinnen dürfen. Ich werde alles tun, um das zu verhindern. Ich habe nicht zu Ratko Mladić ermittelt, aber ihn hinter zu Gittern sehen war eine meiner stärksten Erinnerung­en des letzten Jahres. Und schließlic­h: In Krisengebi­eten erlebt man Gefühle in ihrer stärksten und reinsten Form. Es kann Wut sein, Trauer, aber unter diesen extremen Bedingunge­n auch Mut oder Widerstand­sfähigkeit. Etwas, was man sonst nirgends sieht. Das ist ein Anreiz, weshalb ich diesen Job mache.

ANNA NEISTAT (41) leitet seit 2014 die globale Recherchea­bteilung bei Amnesty Internatio­nal, davor war die Russin für Human Rights Watch tätig. Sie hat mehr als 60 Mal in Krisengebi­eten recherchie­rt, unter anderem in Syrien, Afghanista­n, Libyen und im Jemen. Für einen Vortrag hielt sie sich in Wien auf.

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Anna Neistat in der Doku „E-Team“, die auf Netflix ausgestrah­lt wurde. Ein Filmteam hatte sie dafür nach Syrien begleitet. Neistat: Neistat: Neistat:

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