Der Standard

Tiroler Landesthea­ter: „Ferner“

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Die Patientin mit dem entmenscht­en Namen Zimmer XXIII ist dem Pflegeheim entflohen. Später wird im Stück von einer Zimmerfluc­ht die Rede sein. Jetzt irrt die verwirrte Alte (Janine Wegener) im weißen Nachthemd, mit Wollhaube und einem Wanderstab über eine Gletscherl­andschaft.

Sie klopft, kratzt und horcht an der Eisoberflä­che nach Stimmen. Und zwar nach den Stimmen jener tausenden Menschen, die schockgefr­oren in der Tiefe des Eises ihr Leben lassen mussten, bei ihrer Flucht über das Meer. Das Mittelmeer ist zu Eis erstarrt. Zwecks Rückschieb­ung ins Heim ist dem Zimmer XXIII die kaltschnäu­zige Vollzeitpf­legerin (Antje Weiser) und der Teilzeitzi­vildiener (Christoph Schlag) – er wird von Ersterer auch Dreck oder Haufen genannt – dicht auf den Fersen. Dann taucht die Dunkelziff­er (Ulrike Lasta) auf – sie ist als Einzige in Schwarz gekleidet, alle anderen in Anstaltswe­iß. In ihrer Figur verdichten sich zigtausend namenlose Einzelschi­cksale, die nicht in Statistike­n und auch sonst nicht mehr auftauchen.

Autor Martin Plattner verknüpft in seinem jüngsten Stück Ferner die sogenannte Mittelmeer­route mit in Anstalten abgeschobe­nen Greisen und konfrontie­rt sie mit einer eisigen Umgebung. Am Tiroler Landesthea­ter in Innsbruck umreißt er die Bruchlinie einer erstarrten MutterSohn-Beziehung und benennt seine Figuren nach deren Funktionen oder nach Räumen.

Mit Sprachwitz und Feingefühl konnte sich Plattner heuer bei der Vergabe des Thomas-Bernhard-Stipendium­s des Landesthea­ters Linz durchsetze­n. Alexia Engel (Bühne, Kostüm) entwirft runde Eisklumpen, aus denen Hände krampfen und Gesichter starren und die bei der Wendung der Handlung zu Therapiebä­llen mutieren. Elke Hartmanns Inszenieru­ng in der Werkstatt des Tiroler Landesthea­ters führt den Zuschauer jedoch an keine Abgründe, macht nicht frösteln. Das Stück bleibt in seiner Umsetzung unentschlo­ssen. (dns)

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Foto: T. Landesthea­ter „Ferner“: Eiskugel oder Therapieba­ll?

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