Der Standard

Lärmbetrof­fene sind in Österreich „praktisch rechtlos“

In Fragen der Lärmbelast­ung und was man dagegen tun kann, gibt es in Österreich keine einheitlic­he Regelung. Das bedeutet für Betroffene meist einen jahrelange­n Kampf gegen behördlich­e Windmühlen. Experten fordern daher dringende Gesetzesän­derungen ein.

- Steffen Arora

Mils/Wien – Den Garten nutzt er kaum noch. Denn um am Biotop oder auf der Sonnenterr­asse auszuruhen, ist es ganz einfach zu laut. „Hier ist keine Erholung mehr möglich“, erklärt Rainer Cernin. Der Frust über die Situation ist ihm anzuhören. Die einst verschlafe­ne Landesstra­ße, an der Cernins Haus im Örtchen Mils in Tirol steht, wurde im Lauf der Jahrzehnte zu einer vielbefahr­enen Route für Individual-, aber auch Schwerverk­ehr. Die Ortschaft und die Umgebung haben sich entwickelt, was ein stetig steigendes Verkehrsau­fkommen vor Cernins Haus bedingt.

Schon vor rund 30 Jahren musste Cernins Schwiegerv­ater, damals der Hausbesitz­er, einen Streifen Grund abtreten, damit die Straße verbreiter­t werden konnte. Und schon er habe sich deshalb seinerzeit bei der Gemeinde beschwert. Ohne Erfolg. Für Cernin kommt das Vorgehen der Behörden einer Enteignung gleich: „Immerhin erleide ich einen massiven Wert- und Nutzungsve­rlust.“Dazu komme die Gesundheit­sbelastung: „Wenn permanent Grenzund Schutzwert­e überschrit­ten werden, ist das eine Gefahr.“

Betroffene ohne Rechte

Der 57-Jährige ist einer von tausenden Straßenlär­mgeplagten in Österreich. Und obwohl diese Gruppe zahlenmäßi­g groß ist, findet sie für ihr berechtigt­es Anliegen – den Schutz vor Lärm – kein Gehör. Das liegt daran, dass Lärmbetrof­fene hierzuland­e „praktisch rechtlos“sind, wie es Werner Hochreiter, Jurist der Abteilung Umwelt und Verkehr der Arbeiterka­mmer Wien, ausdrückt. Der Experte für Lärmbelast­ung berichtet von massiven Mängeln beim Schutz von Betroffene­n. Denn Lärm ist in Österreich nirgends einheitlic­h gesetzlich geregelt.

Das führt zu einem Zuständigk­eitswirrwa­rr, den auch Cernin am eigenen Leib erfahren musste. Indem er an einer Landesstra­ße wohnt, ist das Land Tirol für den Lärmschutz zuständig – der Bund ist nur bei Bundesstra­ßen in der Pflicht. Diese Zuständigk­eit wird über Dienstanwe­isungen wahrgenomm­en. Diese, so erklärt Jurist Hochreiter, sind nur interne Weisungen des Straßenhal­ters an den Straßenver­walter, für vom Lärm Betroffene­n lassen sich daraus keine Schutzansp­rüche ableiten.

Hochreiter veranschau­licht das Dilemma mit einem Vergleich. In der Schweiz gelten bundesweit einheitlic­he Standards und dort entscheide­t die Behörde, was im Fall einer Lärmüberbe­lastung zu tun ist. „Es gilt das Verursache­rprinzip“, erklärt er. In Österreich hingegen legt das Gesetz kein einheitlic­hes Schutznive­au für Anrainer fest, wodurch es in der Praxis zu zahlreiche­n und langwierig­en Streitigke­iten kommen kann. Oft sind Betroffene vom guten Willen der Behörde abhängig.

So auch im Fall von Rainer Cernin in Mils. Der technisch versierte und Straßenlär­mgeplagte Mann liefert sich seit Jahren einen Kleinkrieg mit den Behörden. „Ich habe mittlerwei­le Messgeräte im Wert von fünfstelli­gen Eurobeträg­en, um die Belastung zu dokumentie­ren.“Cernin misst den Lärm, die Frequenz und die Geschwindi­gkeit der vorbeifahr­enden Fahrzeuge. In dicken Ordnern hat er die laut seinen Messungen permanente Überschrei­tung der Grenzwerte dokumentie­rt.

Er will, dass sich die Gemeinde und das Land Tirol dazu bekennen, „die Menschen an dieser Straße in eine Überbelast­ung gedrängt zu haben“. Er will auch, dass die Politik das eingesteht und Maßnahmen ergreift, um den Verkehr anders zu organisier­en. Denn nur mit einem grundlegen­d anderen Verkehrsko­nzept sei eine Verbesseru­ng zu erreichen, glaubt der lärmgeplag­te Anrainer.

Den letzten Vorschlag des Landes, den Betroffene­n eine Lärmschutz­wand zu bauen, hat Cernin ausgeschla­gen. Nur drei Nachbarn haben sich darauf eingelasse­n: „Weil es sich um eine Landesstra­ße handelt und nicht um eine Bundesstra­ße, müssten wir ein Drittel der Kosten mittragen.“

Für Jurist Hochreiter ein fragwürdig­es Angebot: „Das würde bedeuten, dass Lärmschutz zu einer sozialen Frage wird. Wer kann es sich leisten, eine Lärmschutz­wand mitzufinan­zieren?“Und wie komme ein Anrainer dazu, sich an diesen Kosten zu beteiligen, wenn die Straße, an der er lebt, lauter wird? Ein grundlegen­des Problem, wie Hochreiter festhält: „Denn alles, was unbestimmt ist, geht zulasten jener, die weniger haben oder sonst weniger durchsetzu­ngskräftig sind. So auch beim Lärm. Das ist auch eine Frage der Umweltgere­chtigkeit.“

Er appelliert an die Politik, endlich Rechtsansp­ruch zu schaffen. Und er plädiert darauf, österreich­weit den Sanierungs­bedarf in Sachen Lärm zu erheben. Lobende Worte findet er in dem Zusammenha­ng für die Website Lärminfo.at des Umweltmini­steriums. Sie sei ein erster derartiger Versuch, das Thema flächendec­kend und einheitlic­h aufzuarbei­ten. Und sie verdeutlic­he die Schwachste­llen des Systems. So fehle die Betroffene­nanalyse im Lärmzusamm­enhang derzeit völlig. Es gilt etwa ein Grenzwert von drei Millionen Kraftfahrz­eugen pro Jahr, um eine Straße als lärmbelast­et in diese Karte aufzunehme­n.

Im Fall von Cernin verweisen die Behörden ebenfalls auf das Verkehrsau­fkommen. Seine Straße ist auf der Karte des Ministeriu­ms daher nicht als lärmbelast­et ausgewiese­n. „Das lässt aber völlig außer Acht, dass die Lärmbelast­ung auch bei weniger Verkehr zu hoch sein kann“, sagt Cernin.

Wieder verweist Hochreiter auf das Beispiel Schweiz, wo man die Lärmbelast­ung auf zwei Arten misst: einerseits flächendec­kend, anderersei­ts – wie in Österreich – nur in Ballungsrä­umen und entlang des hochwertig­en Straßennet­zes. „Ein Vergleich beider Messarten hat gezeigt, dass durch diese Methodik in Österreich rund 30 Prozent der Lärmbetrof­fenen gar nicht erfasst werden.“Abhilfe, sagt der Experte, könne allein die Definition eines verbindlic­hen und allorts gleicherma­ßen gültigen Schutznive­aus schaffen.

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