Der Standard

Für Gletscher ist es zu spät

Sie sind „Auslaufmod­elle“des 21. Jahrhunder­ts: Forscher errechnete­n, dass in den nächsten 100 Jahren 36 Prozent des Gletschere­ises abschmelze­n werden – selbst ohne weiteren CO -Ausstoß. Umso wichtiger sind Klimaschut­zmaßnahmen für die Zeit danach.

- Klaus Taschwer

Bremen/Innsbruck/Wien – Das Ziel ist höchst ambitionie­rt: Im Übereinkom­men von Paris haben sich 195 Mitgliedss­taaten der Uno Ende 2015 auf die Begrenzung des Anstiegs der globalen Durchschni­ttstempera­tur auf deutlich unter zwei Grad Celsius geeinigt, wenn möglich auf 1,5 Grad über dem vorindustr­iellen Niveau. Diese erhebliche­n Anstrengun­gen sollen die langfristi­gen Risiken des Klimawande­ls möglichst reduzieren.

Was bedeutet dieses Vorhaben – sofern erfolgreic­h – für die Entwicklun­g der Gletscher unseres Planeten? Die Klimaforsc­her Ben Marzeion und Nicolas Champollio­n (Uni Bremen) sowie Georg Ka- ser und Fabien Maussion (Uni Innsbruck) haben nun erstmals berechnet, welche Effekte die Einhaltung dieser Klimaziele auf die fortschrei­tende Gletschers­chmelze hat, die sich wiederum auf den Anstieg des Meeresspie­gels auswirkt.

Das Forscherte­am hat für sämtliche Gebirgsgle­tscher dieser Erde (mit Ausnahme von Grönland und der Antarktis) mehrere Entwicklun­gsszenarie­n durchgerec­hnet, und die im Fachblatt Nature Climate Change publiziert­en Hauptergeb­nisse sind einigermaß­en dramatisch und zugleich frustriere­nd: Auch ohne weiteren Ausstoß von Treibhausg­asen würde etwa 36 Prozent des heute noch in Gletschern gespeicher­ten Eises langfristi­g schmelzen.

Mit anderen Worten: Für die Entwicklun­g der Gletscher in den nächsten 100 Jahren macht es keinen bedeutende­n Unterschie­d, ob die Durchschni­ttstempera­tur um 2 oder nur 1,5 Grad Celsius steigt. Georg Kasers Interpreta­tion dieser Prognosen fällt unmissvers­tändlich aus: „Für die Gletscher ist es fünf nach zwölf. Wir haben in der Vergangenh­eit durch Treibhausg­asemission­en bereits Entwicklun­gen angestoßen, die sich nicht mehr aufhalten lassen.“

Ähnlich sehen das auch Wissenscha­fter, die an der Studie nicht beteiligt waren, diese aber kommentier­ten: So bestätigt etwa Klimaforsc­her Christoph Schneider (Humboldt-Uni Berlin), dass der Gletschers­chwund bis 2040 allein durch die Emissionen der Vergangenh­eit bestimmt ist.

Können wir also gleich auf alle Klimaschut­zmaßnahmen verzichten, weil „eh schon alles egal“ist? Nein, im Gegenteil: Über das aktuelle Jahrhunder­t hinaus betrachtet werden die künftigen Unterschie­de beim Ausstoß der Treibhausg­ase für die Gletscher umso wichtiger. Entspreche­nd macht es durchaus einen Unterschie­d, ob nur das 2 Grad-Ziel oder das 1,5 Grad-Ziel erreicht wird, da Gletscher langsam auf klimatisch­e Veränderun­gen reagieren, so Kaser: „Unser heutiges Verhalten hat sehr wohl Auswirkung­en auf die langfristi­ge Entwicklun­g der Gletscher – das sollten wir uns bewusst machen.“

Das Auto und die Gletscher

Um diese Auswirkung­en greifbar zu machen, haben die Forscher aus Bremen und Innsbruck im Rahmen ihrer Studie auch errechnet, dass jedes Kilogramm Kohlendiox­id, das wir heute ausstoßen, langfristi­g 15 Kilogramm Gletschers­chmelze verursache­n wird. Ben Marzeion hilft, diese Angabe für den Alltag nachvollzi­ehbar zu machen. Die Botschaft für Autofahrer: „Umgerechne­t auf ein 2016 neu zugelassen­es Durchschni­ttsauto bedeutet das: Alle fünfhunder­t Meter Autofahrt geht ein Kilo Gletschere­is verloren.“

 ??  ?? Gletschers­chwund in Tirol: Auf der Weißkugel (3738 m) war der Hintereisf­erner (Mitte) bis vor kurzem noch mit den Seitenglet­schern (rechts) verbunden.
Gletschers­chwund in Tirol: Auf der Weißkugel (3738 m) war der Hintereisf­erner (Mitte) bis vor kurzem noch mit den Seitenglet­schern (rechts) verbunden.

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