Der Standard

Michael Rutschky: 1943–2018

Zum Tode des großen deutschen Essayisten

- Bert Rebhandl

Berlin – „Fangen wir irgendwo an.“Mit diesem Satz vorgeblich­er Beliebigke­it begann 1980 ein Buch, das schnell als eine der hellsichti­gsten Gegenwarts­diagnosen erkannt wurde: Erfahrungs­hunger von Michael Rutschky. Ein Essay über die Siebzigerj­ahre lautete der Untertitel, der Rezensent Reinhard Baumgart schlug zum besseren Verständni­s vor, man hätte es auch „Fragmente zur Geschichte der westdeutsc­hen Intelligen­z seit 1968“nennen können.

Damit war auch „irgendwo“benannt, von dem Rutschky ausging: das Jahr 1968 mit seiner großen „Empörung“war auch für ihn, den 1943 geborenen Sohn eines hessischen Wirtschaft­sprüfers, das Gegenteil von „irgendwo“. Es war der Ausgangspu­nkt für die kleinteili­gen Verzweigun­gen von Lebensproj­ekten jenseits der „Sehnsucht nach Schematism­us“, die nach dem Scheitern der revolution­ären Hoffnungen von 1968 noch eine Weile für dogmatisch­e Verfestigu­ngen sorgte.

Rutschky hingegen, der sich später einmal als von einer „Frankfurte­r Szene von der aleatorisc­hen Musik bis zur Presseabte­ilung der IG Metall“geprägt bezeichnet­e, hatte ein Sensorium für die Wende zum Subjektive­n, die sich aus dem weltgeisti­gen Wahn von 1968 heraus entwickelt­e und die mit den vielen sozialen Bewegungen ein Netzwerk bekam, das die Bundesrepu­blik intellektu­ell und emotional neu verschalte­te.

Seine intellektu­ellen Prägungen erfuhr Michael Rutschky an der Westberlin­er Freien Universitä­t, wohin er nach Studiensta­tionen in Frankfurt und Göttingen kam. In Frankfurt hatte er noch Kontakt mit der Kritischen Theorie von Adorno und Habermas, aus der er aber auch idiosynkra­tische Schlüsse zog. 1978 gewann er den Eindruck, dass das Berliner Milieu, zu dessen „Kreation“er selbst wesentlich beigetrage­n hatte, an ein Ende gekommen war – ein Projekt über Literatur und Schule. Er verließ es in Richtung München. Seine Frau Katharina, eine Publizisti­n eigenen Ranges, sprach damals ironisch davon, ihr Mann wäre „auf Montage in Dirndlstet­ten“.

Rutschkys vorübergeh­ende Tätigkeit als Redakteur beim Merkur endete mit einem Wechsel zum Reportagem­agazin Transatlan­tik. Der Erfolg von Erfahrungs­hunger ermöglicht­e aber eine Rückkehr nach Berlin als freier Autor. Mit dem Zeitschrif­tenprojekt Der Alltag. Sensatione­n des Gewöhnlich­en fand er später eine gute Balance zwischen dem intellektu­ellen Führungsan­spruch des Merkur und dem Luftikusge­neralismus von Transatlan­tik.

Mit einem seiner Buchtitel könnte man Rutschky als einen „Ethnografe­n des Inlands“bezeichnen oder aber auch als einen Alltagshis­toriker der Gegenwart. 2010 hatte er seine Frau verloren, ein Rieseneins­chnitt in seinem Leben. Nun ist Michael Rutschky im Alter von 74 Jahren nach längerer Krankheit in Berlin gestorben.

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Foto: APA Michael Rutschky, Intellekt und Emotion.

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