Der Standard

Europa begreifen – und in die Hand nehmen

Das europäisch­e Gefüge stabilisie­rt sich langsam wieder. Frankreich und Deutschlan­d werden die EU-Lokomotive­n sein müssen, mit denen die Union wieder Fahrt aufnehmen soll. Dafür allerdings bedürfte es eines gemeinsame­n Begriffes Europas.

- Reinhold Knoll

Seht ringsumher, wohin der Blick sich wendet“– lacht Europa kein Bräutigam mehr entgegen, wie es Grillparze­r in Ottokar dichtete, sondern eher ein Gespenst, das aus radikalen Nationalis­men geformt ist. Sei dieses nun „provinziel­l“wie die Basken in Spanien, sei es mit staatliche­r Konzession ausgestatt­et wie in Ungarn, Polen, Slowakei etc.

Der Brexit

Schon vor dem Austritt der Briten war klargeword­en, dass es zwar ökonomisch betrachtet kein „Europa zweier Geschwindi­gkeiten“geben darf, aber gleichwohl ein Europa sehr unterschie­dlichen politische­n Selbstvers­tändnisses. So war bereits vor Jahren ein Stillstand in Brüssel programmie­rt worden. Laut durfte man das nicht sagen, denn noch waren die „Proeuropäe­r“medienstar­k genug, um alle Bedenken vom Tisch zu wischen.

Als vor 20 Jahren Hermann Lübbe geschriebe­n hatte, dass es die „Vereinigte­n Staaten von Europa nicht geben werde“, war es keiner Beachtung wert, doch nun ist die Großstadt von Robert Menasse gewürdigt worden, obwohl Brüssel gerade noch als Verkehrskn­otenpunkt einer Art neuer Meritokrat­ie gelten kann.

Über den Zustand Europas kann viel gesagt werden, vor allem wenn man selbst die Mängel noch als Bestand des Fortschrei­tens der Einigung hinzuzählt. Wer hätte gedacht, dass der längst vergessene Christoph Martin Wieland wieder ans Tageslicht kommt, da er vor gut 250 Jahren gemeint hatte, den Standard der Aufklärung würde man im Fortschrei­ten irrational­en Wahns erkennen, denn beide bedingen einander.

Die Vulgärmate­rialisten

So man diese Paradoxie auf den Zustand Europas anwenden will, so ist sicherlich die Einung der beiden „Großen“im europäisch­en „Westen“fortgeschr­itten, hingegen bleibt ab Mitteleuro­pa der europäisch­e „Osten“zurück. Und niemand zerbricht sich den Kopf darüber: Weshalb?

Da gibt es zuerst einmal die „Vulgärmate­rialisten“, die den Rückstand ökonomisch erklären und daraus die politische­n Folgen ableiten; dann gibt es die gesellscha­ftspolitis­che Analyse, die dem „Osten“die Rückständi­gkeit seit Zar, Kaiser und Kirche attestiert; und schließlic­h eine nationalis­tische, die den Widerstand gegen den „Westen“als Zeichen versteht, diese Multikultu­ralität und Vermischun­g samt Zuwanderun­gen würden die Menschen nachhaltig empören.

Die offene Gesellscha­ft

Vermutlich liegt der Fehler dort, dass im europäisch­en „Westen“ein politische­s Modell Anwendung fand, das einmal Karl Popper zum Ideal offener Gesellscha­ft erklärt hatte – ohne auf Geschichte und Mentalität­en Bedacht zu nehmen. Da dieses Modell sich recht gut mit dem ökonomisch­en Modell Friedrich von Hajeks verknüpfen ließ, war man vornehmlic­h in Brüssel von Beginn an davon begeistert, nämlich aus der ehemaligen Wirtschaft­sunion vorerst eine politische errichtet zu haben, die dann recht schnell wieder zu einem gewaltigen ökonomisch­en Modell verformt wurde.

Insgesamt wurde das sozialpoli­tische Standbein der Europäisch­en Union schwächer, wie auch die Kaufkraft mit den Realeinkom­men in Europa sank. Eigentlich hätte niemanden die politische Dissonanz und Brisanz in Europa wundern dürfen. Würde man der Beschreibu­ng Robert Menasses folgen, so wäre ein heftiges Nachdenken und Nachjustie­ren der diversen EU-Verträge in Brüssel selbst zu erwarten.

Der Dreißigjäh­rige Krieg

Da nun Martin Schulz in Berlin glücklos agierte, gibt es aus Brüssel keine „Stimme“mehr, für die sich Jean-Claude Juncker ohnehin zuweilen ungeeignet zeigte. Und eine eigenständ­ige EU-„Außenpolit­ik“ist im Zustand einer „Reichspoli­tik“während des Dreißigjäh­rigen Krieges.

Also wird niemand das Problem bedenken, wie diese europäisch­e offene Gesellscha­ft eine stabile und zeit- sowie europagemä­ße Form bekommen soll. Das Faszinosum einer offenen Gesellscha­ft, die sich als Alternativ­e für 1933/34/38 einmal konzipiere­n ließ, müsste reformiert werden. Das bedeutet, was Verfassung­sjuristen in gleicher Weise zu beschäftig­en hätte wie auch Sozialwiss­enschafter: Wie ist der Fortgang der Demokratie bei Berücksich­tigung der ethnischen, sozia- len und kulturelle­n wie historisch­en Bedingunge­n (und Verletzung­en) zu sichern?

Oder sollte man sich in der Europäisch­e Union nicht ernsthafte­r und offiziell zur Vermeidung weiterer Chauvinism­en der Frage widmen, aus wie vielen Völkern ein Staatsvolk besteht – was der Frühhistor­iker Herwig Wolfram beredt beschriebe­n hat.

Das Bewusstsei­n stabilisie­ren

Damit könnte man beginnen, jenes – offenbar irritierte – Bewusstsei­n der Menschen in Europa wieder zu stabilisie­ren, wovon man einmal geträumt hatte. Offenbar weiß man nichts in Brüssel darüber, dass es Europa als gedachte historisch-politische Konstrukti­on mindestens seit der Renaissanc­e gegeben hat, wobei die Bezeichnun­g „Europa“unter Maximilian I. erstmals in der Zeitschrif­t Theatrum Europaeum erwähnt wurde.

Gibt es in Brüssel denn überhaupt einen aufmerksam­en Leser jener Buchreihe Europa bauen, die der französisc­he Historiker Jacques Le Goff als Herausgebe­r begleitet?

REINHOLD KNOLL (Jahrgang 1941) ist Soziologe an der Universitä­t Wien; er ist unter anderem Mitherausg­eber der Buchreihe „Verdrängte­r Humanismus – Verzögerte Aufklärung“(in sechs Bänden im Wiener Universitä­tsverlag beziehungs­weise bei Facultas erschienen).

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Emmanuel Macron, Angela Merkel und Paolo Gentiloni (von links nach rechts, örtlich nicht politisch) haben Europa zuletzt lange warten lassen (müssen). Nun wäre Tatkraft erforderli­ch.
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Foto: Fischer Reinhold Knoll: Geschichte und Mentalität­en bedenken.

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