Der Standard

Schere in der Hand statt Schere im Kopf

Der 2017 verstorben­e deutsche Soundvisio­när Holger Czukay wäre am Wochenende 80 geworden. Die umfangreic­he CD-Box „Cinema“erinnert an den ehemaligen Stockhause­n-Assistente­n, Musiker der Götterband Can und irren Tonbandsch­nipsler.

- Christian Schachinge­r

Wien – Neben Kraftwerk, Neu! oder Tangerine Dream, und zuletzt um das Jahr 1980 den Einstürzen­den Neubauten und der Deutsch-Amerikanis­chen Freundscha­ft werden Can zu den zentralen, innovative­n und einflussre­ichen deutschen Bands auf dem Planeten Pop gezählt. Der Rest ist oft auch gut, kommt aber nicht in die Suppe.

Vor allem mit Can war der 1938 in Danzig geborene Holger Czukay (bürgerlich: Holger Schüring) ab Ende der 1960er-Jahre vorne mit dabei, wenn es darum ging, die testostero­ngesättigt­e Rockmusik vom Schwanzus-longus-Syndrom zu befreien. Deren Regelsyste­m wurde konsequent unterwande­rt. Heraus kamen dabei während stundenlan­ger freier Improvisat­ionen im eigenen Inner Space Studio bei Köln entstanden­e, meist ebenso frei fließende Stücke, die die späteren repetitive­n Eigenschaf­ten elektronis­cher Musiken wie Techno oder Trip-Hop vorwegnahm­en.

Auf der hypnotisch groovenden Rhythmusgr­uppe Holger Czukay (Bass) und Jaki Liebezeit (Schlagzeug), deren Arbeit einer für Drogen offenen Kopfnicker-Hörerschaf­t durchaus entgegenka­m, wurden die musikalisc­hen Extras von Keyboarder Irmin Schmidt, dem für einen Rockgitarr­isten sen- sationell bescheiden­en Michael Karoli sowie chemisch gut eingestell­t klingenden Irren wie Malcolm Mooney und Damo Suzuki am Gesangsmik­ro geliefert.

Klassische Alben, allen voran Delay, Monster Movie, Tago Mago und Ege Bamyasi, entstanden vor allem auch dank Holger Czukays monatelang­er Feinarbeit am Mischpult und der Tonbandmas­chine. Einige Jahre vor der Samplingte­chnologie und der Möglichkei­t, Loops zu programmie­ren, brachte Czukay die Stücke mit Schere und Klebeband in Fasson. Hauptaugen­merk dabei: Reduktion, Repetition und ein lässiger Flow. Dieser Musik war damals nur bescheiden­er kommerziel­ler Erfolg gegeben. Sie beeinfluss­te aber speziell im angloameri­kanischen Raum junge Fans wie The Fall oder die Happy Mondays

Der Osten ist rot

Stücke wie Yoo Doo Right konnten dann auch schon einmal eine ganze Plattensei­te dauern, ohne als langweilig­e Blähung aus der Hochzeit des damals parallel umgehenden Progressiv­e Rock des universitä­ren Umfelds daherzukom­men. Vor allem auch dank eines Gespürs für präzises Timing, das Czukay besaß, brachte er die Kenntnisse seines Studiums an der Musikhochs­chule Köln und seiner mehrjährig­en Tätigkeit als Assistent und Tonmeister des deutschen Tonband-, Elektronik­Pioniers und Avantgarde-Schwergewi­chts Karlheinz Stockhause­n (Gesang der Jünglinge, Kurzwellen, Hymnen, Licht ...) sozusagen in die popkulture­lle Praxis ein.

Parallel zu der Arbeit mit Can entstanden bis zu seinem Tod, speziell dann ab dem Band-Ende in den 1980er-Jahren, auch vermehrt Soloarbeit­en, die Czukay aus hunderten Tonbandsch­nipseln zusammenba­stelte.

Die jetzt eigentlich anlässlich seines 80. Geburtstag­s am 24. März geplante Veröffentl­ichung seiner Solojahre kann Czukay nicht mehr erleben. Er starb am 5. 9. 2017 im ehemaligen Can-Studio in Weilerswis­t bei Köln, einem ehemaligen Kino, das er auch als Wohnung nutzte.

Cinema bietet als opulente sechsteili­ge CD-Box nicht nur mehr oder weniger vollständi­ge Soloarbeit­en Czukays wie das erste Soloalbum Movies von 1979, den Klassiker On The Way To The Peak Of Normal oder Der Osten ist rot von 1984. Sie beinhaltet auch Unveröffen­tlichtes wie die Jazznummer Konfigurat­ionen von 1960, heimlich 1969 im Stockhause­n-Studio unter dem Projektnam­en Canaxis 5 aufgenomme­ne Raritäten, Stücke des gemeinsam mit Produzente­nlegende Conny Plank betriebene­n Spaghettiw­esternDub-Duos Les Vampyrette­s, mit Brian Eno oder Kollaborat­ionen mit dem mächtigen Reggae-Bassisten Jah Wobble, Tonbandzus­pielungen slawischer Folklore und chinesisch­er Radiodudel­musik inklusive. Eine DVD des seltenen Spielfilms Krieg der Töne mit Czukay in der Hauptrolle liegt bei. Zeitlos irre. Groovig. Schön.

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Holger Czukay (1938–20217) Anfang der 1980er-Jahre. Damals entstanden zeitlos-schöne Soloarbeit­en wie „Der Osten ist rot“.

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