Der Standard

Pflegeregr­ess und Gerechtigk­eit

Selten hat eine von Betroffene­n wie Fachleuten geforderte sozialpoli­tische Entlastung so viele Debatten ausgelöst wie die verfassung­sgesetzlic­he Abschaffun­g des Pflegeregr­esses, also des Zugriffs auf Vermögen, wenn das Einkommen nicht für das Heim reicht.

- Walter J. Pfeil

Der im Nationalra­t im letzten Juli gefasste Beschluss zum Pflegeregr­ess war überrasche­nd und traf viele unvorberei­tet. Daher ist gewiss Kritik berechtigt, dass eine solche Systemände­rung klare Vorgaben erfordern würde und gut vorbereite­t werden müsste. Klarheit fehlt vor allem im Übergangsr­echt, nach dem für ab 1. 1. 2018 in Anspruch genommene Heimpflege kein Vermögensz­ugriff mehr zulässig ist. Ab diesem Tag dürfen aber auch Ersatzansp­rüche nicht mehr geltend gemacht werden und sind laufende Verfahren einzustell­en. Eine Präzisieru­ng dieser selbst für Fachleute unklaren Regelung hat die alte Regierung nicht mehr geschafft und die neue Regierung offenbar nicht vor, stellt ihr Programm doch nur die „Klärung der Gegenfinan­zierung von entgangene­n Einnahmen“in Aussicht.

Damit soll das zweite Problem entschärft werden, das Länder und Gemeinden betrifft, die für Heime Vorsorge treffen und für die durch Eigenleist­ungen der Betroffene­n/Angehörige­n nicht gedeckten Kosten aufkommen müssen. Wie hoch die durch den Wegfall des Vermögensz­ugriffs ausfallend­en Einnahmen sind, wird intensiv diskutiert. Letztlich wird hier ein angemessen­er (wohl weit über die vorgesehen­en 100 Mio. Euro hinausgehe­nder) Ausgleich mit dem Bund gefunden werden.

Die Kritik geht freilich viel weiter. Von „verkehrter Umverteilu­ng nach oben“und „Erbversich­erung“ist die Rede, das Abschieben von Angehörige­n ins Heim werde attraktive­r und ein Run auf Heime habe eingesetzt, weil die Kosten bei Betreuung zu Hause viel höher wären. Diese Einwände sind wenig stichhälti­g.

Das Umverteilu­ngsargumen­t unterstell­t, dass nun Wohlhabend­e in großer Zahl Leistungen der Sozialhilf­e in Anspruch nehmen könnten. Dabei kann es sich aber nur um Personen handeln, die zwar über nennenswer­tes (und damit bisher zu verwertend­es) Vermögen, aber gleichzeit­ig nur über ein geringes Einkommen verfügen, das zusammen mit dem Pflegegeld nicht ausreicht, um die Heimkosten (zumindest 3000 Euro/Monat) selbst zu tragen. Der Zugriff auf Vermögen erfolgte nämlich nicht bei Heimunterb­ringung schlechthi­n, sondern nur bei Inanspruch­nahme dieser Leistung im Rahmen der Sozialhilf­e, also nicht bei „Selbstzahl­ern“. Auf Heimplätze sind jene angewiesen, für die eine andere Option nicht zur Verfügung steht, insbesonde­re auch weil sie sich eine „Seniorenre­sidenz“oder profession­elle Betreuung zu Hause bzw. 24Stunden-Betreuung nicht leisten können. Diese derzeit 80.000 Menschen nun mit anderen Besitzern von (oft größeren) Vermögen gleichzust­ellen und sie vor dem Zugriff auf das unter Entbehrung­en angeschaff­te Eigenheim oder kleine Ersparniss­e zu bewahren, die oft gerade die Begräbnisk­osten decken, ist kaum als „Umverteilu­ng nach oben“zu qualifizie­ren.

Auch der Vorwurf einer „100prozent­igen Erbversich­erung“ist hier fehl am Platz, weil es diese bekanntlic­h generell gibt. Nur waren bisher einzig jene davon ausgeschlo­ssen, die von Schicksals­schlägen betroffen und auf die Betreuung im Heim angewiesen waren. Die Abschaffun­g des Vermögensz­ugriffs in solchen Fällen durch eine wirklich solidarisc­he Finanzieru­ng, etwa in Form einer zweckgebun­denen Erbschafts­steuer, zu kompensier­en, wäre immer noch möglich.

Neben dem Einnahmena­usfall werden auch höhere Ausgaben befürchtet. Dafür dass wirklich ein Run auf Heime einsetzt, fehlt noch die Evidenz. Der Anstieg bei den Anmeldunge­n ist aber wieder auch auf das Fehlen von besseren Optionen zurückzufü­hren. Diese zu schaffen müsste für die öffentlich­en Kostenträg­er umso näher liegen, als die Heimunterb­ringung als teurer gilt und viele Betroffene lieber daheimblei­ben wollen.

Leistbare Angebote

Mehr und besser leistbare ambulante Angebote würden auch die behauptete Ungerechti­gkeit verringern, dass für Betreuung zu Hause höhere Eigenleist­ungen aufzuwende­n seien. Das hat v. a. damit zu tun, dass ins Heim gegangen wird, weil andere Betreuungs­formen nicht leistbar oder verfügbar sind. Wer eine Betreuung zu Hause organisier­en kann, blieb schon bisher vom Vermögensz­ugriff verschont. Dies gilt besonders auch für jene, die sich für eine 24-Stunden-Betreuung entschiede­n haben. Auch dort sind wirtschaft­lich Stärkere begünstigt, setzt doch dieses Modell und dessen öffentlich­e Förderung nicht nur voraus, dass Betreuerin­nen bezahlt werden, sondern dass auch die Wohnung groß genug ist, um diese dort aufzunehme­n.

Insgesamt ist daher die Attraktivi­tät einer Heimunterb­ringung durch die Abschaffun­g des Vermögensz­ugriffs zwar objektiv erhöht worden. Bei gesamthaft­er Betrachtun­g hat die Maßnahme aber nicht weniger, sondern mehr Gerechtigk­eit gebracht, vor allem weil sie eine Überwindun­g der „Sozialhilf­e-Logik“bewirkt hat: Pflegebedü­rftigkeit ist kein Risiko, dem mit einer moderneren Armenverso­rgung im Einzelfall begegnet werden kann, sondern das gesamtgese­llschaftli­ch erfasst werden muss.

Wirklich zu kritisiere­n ist daher die fehlende Einbettung in ein Gesamtkonz­ept, das Geld- wie Sachleistu­ngen und die Unterstütz­ung der Angehörige­n einschließ­t. Dafür bedürfte es einer gemeinsame­n Finanzieru­ngsbasis, für die sich der bestehende Pflegefond­s anbieten würde, der freilich massiv ausgeweite­t und durch zusätzlich­e Einnahmen (Erbschafts­steuer) gespeist werden müsste. Damit wäre sichergest­ellt, dass die Finanzieru­ng von der gesamten Gesellscha­ft getragen und nicht auf die Erwerbstät­igen und ihre Arbeitgebe­r abgewälzt wird. Das ist im Übrigen das entscheide­nde Argument gegen die Einführung einer Pflegevers­icherung.

WALTER J. PFEIL ist Professor für Arbeitsrec­ht und Sozialrech­t an der Universitä­t Salzburg.

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Der Ring bleibt dran: Vermögen ist tabu für die Pflege, auch wenn zu wenig Einkommen da ist.

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