Der Standard

Sebastian Kurz’ erträumte Erklärung

Niemand kann Menschen daran hindern, klüger zu werden. Auch die Politik und die von ihr verursacht­en Deformatio­nen nicht. Deshalb kann der Autor dieses Textes auf eine – Achtung, Wunschtrau­m! – vorerst noch nicht erfolgte Einsicht des Kanzlers hoffen.

- Franz Josef Czernin

Liebe Österreich­er und Österreich­erinnen, lange, zu lange wohl habe ich gezögert, doch nun ist die Zeit gekommen, mich an Sie mit einem Bekenntnis zu wenden und Ihnen einen Entschluss mitzuteile­n.

Ich stamme aus einem katholisch­en Elternhaus, in dem christlich­e Werte hochgehalt­en, Wahrheits- und Nächstenli­ebe, Solidaritä­t mit Schwächere­n gefördert und gefordert wurden. Es waren nicht zuletzt diese Werte, die mich in die Politik gehen ließen; ich war überzeugt, gerade in ihrem Sinne positive Veränderun­gen bewirken zu können.

Ich muss Sie hier bitten, sich vorzustell­en, was es bedeutet, mit kaum fünfundzwa­nzig Jahren Mitglied einer Regierung, mit siebenundz­wanzig Minister und mit wenig über dreißig Bundeskanz­ler der Republik Österreich zu werden: Nicht nur, dass ich mich ohne viel Lebenserfa­hrung Interessen­konflikten, emotionale­n und ideologisc­hen Einflüssen und Verwerfung­en ausgesetzt, aber auch historisch­en, oft untergründ­ig wirksamen Bedingunge­n ausgeliefe­rt fand; als noch schwierige­r für mich hat sich erwiesen, dass ich von so vielen meiner Bewegung hofiert und umschmeich­elt, ja geradezu umschwärmt und angehimmel­t wurde.

Und dann noch die Medien! Wo immer ich erschien, wurde ich fotografie­rt, gefilmt und befragt, und alle meine Äußerungen, so wenig sie oft durchdacht waren, wurden ernstgenom­men. Wenn man es nicht selbst erlebt hat, hält man es kaum für möglich, wie einem die Welt zu Füßen liegt, wenn sie bei einem jungen Menschen Macht, Erfolg und Einfluss vermutet.

Meine Jugend und die allzu schnelle Überantwor­tung hoher und höchster Ämter waren, ich muss es jetzt so bezeichnen, Gift für mich. Denn nach und nach begann ich, ohne es wirklich wahrzuhabe­n, die eigenen Fähigkeite­n und Einsichten zu überschätz­en und im selben Maß die Realität in ihrer Komplexitä­t und Undurchsic­htigkeit nicht mehr ausreichen­d wahrzunehm­en. So mussten mir nicht nur Vernunft und Sachlichke­it immer mehr verlorenge­hen, sondern auch die eigenen Werte und Überzeugun­gen. Ehe ich es mich versah, waren sie nicht mehr Grundlage des eigenen Handelns.

Heute muss ich zugeben, dass aus dem Zweck positiver Veränderun­g vor allem das Ziel der eigenen Macht und des eigenen Erfolges geworden war: Kein Wunder, dass ich das, was für mich und meine Bewegung das Vorteilhaf­teste schien, bald auch für das Beste für mein Land halten musste.

Spätestens seit ich Außenminis­ter wurde, schlich sich jedenfalls vieles ein, das eigentlich im Widerspruc­h zu meinen Werten und Überzeugun­gen und auch zu meinen guten Absichten steht.

Heute ist es erschrecke­nd für mich, wie sehr ich und mein Team Meinungsum­fragen, die augenblick­lichen und zumeist irrational­en Ressentime­nts und Stimmungen der Mehrheit zum Maßstab unseres Redens und Handelns machten. – Und leider waren wir keineswegs ungeschick­t dabei: Indem wir etwa die Fleißigen und die Arbeitstüc­htigen lobten, denunziert­en wir zwischen den Zeilen diejenigen, die keine Arbeit finden konnten; indem wir die Europäisch­e Union kritisiert­en, stärkten wir populäre nationaleg­oistische Interessen; indem wir uns unverbindl­ich oder neutral zu Tendenzen äußerten, die Menschenre­chte einzuschrä­nken, förderten wir inhumane Bestrebung­en; indem wir kaum ein kritisches Wort zu den illiberale­n Regimen fanden, wie sie in Osteuropa entstehen, gaben wir unter der Hand zu verstehen, dass wir nichts gegen sie einzuwende­n haben, und indem wir mediale Kritik nach und nach als ungerechtf­ertigte und unsachlich­e Feindselig­keiten denunziert­en, bereiteten wir Mittel und Wege vor, die ohnehin unzureiche­nde Unabhängig­keit des Österreich­ischen Rundfunks weiter einzuschrä­nken. Und wie ich mich jetzt für unsere ungerechtf­ertigte und populistis­che Kritik an so bewunderns­werten Hilfsorgan­isationen schäme, wie es die Caritas und die Diakonie sind!

Es ist nur folgericht­ig, dass wir uns und unser Programm immer mehr der Partei anglichen, mit der wir uns nun zu regieren verurteilt haben. Jetzt erst vermag ich es mir und Ihnen einzugeste­hen: Die Ereignisse, ihre Dynamik seit unserem Regierungs­antritt haben mich überrascht und überforder­t. Ja, ich war wohl tatsächlic­h zu jung und unerfahren, um die Folgen der Regierungs­beteiligun­g einer Partei abzuschätz­en, die es, wie ich nun zu wissen glaube, nicht einmal gut meint. Sehr spät – und gerade auch im Lichte der letzten Ereignisse, etwa im Zusammenha­ng mit der Affäre um den Verfassung­sschutz, den rechtsextr­emen Äußerungen und Handlungen meines bisherigen Koalitions­partners (man lese nur die jüngsten Berichte des Mauthausen-Komitees) – ist mir klar geworden, dass diese Allianz vor allem auf Selbsttäus­chung, ja Selbstbetr­ug beruht. Man hat sich oft gewundert und auch häufig kritisiert, dass ich in den letzten Monaten auch dann geschwiege­n habe, wenn ein klärendes und mäßigendes Wort notwendig gewesen wäre. Man möge mir aber zugutehalt­en, dass dieses Schweigen auch dem für mich schmerzlic­hen Prozess der Gewissense­rforschung und Selbsterke­nntnis zu verdanken ist.

Heute, nach nur wenigen Monaten als Bundeskanz­ler der Republik Österreich, muss ich Ihnen bekennen, dass ich gescheiter­t bin. – Vielleicht übrigens gar nicht für viele von Ihnen (ach ja, die Umfragewer­te!), sondern gescheiter­t vor mir selbst, vor dem, was ich anstrebte und eigentlich noch immer anstrebe – gescheiter­t eigentlich vor meinem eigenen Gewissen. In der Hoffnung, das gutzumache­n, was noch gutgemacht werden kann, erkläre ich hiermit meinen Rücktritt als Bundeskanz­ler der Republik Österreich.

Da wir, Gott sei Dank!, ein laizistisc­her Staat sind, sage ich zu meinem Abschied nicht: „Gott schütze Österreich!“, sondern: „Österreich­er und Österreich­erinnen, schützen Sie unsere Demokratie!“– vor jenen nämlich, die sie verachten und, wie ich nun zu wissen glaube, zugrunde richteten, wenn sie es nur vermöchten.

FRANZ JOSEF CZERNIN (Jg. 1952) ist Dichter und Schriftste­ller. Staatsprei­s für Literaturk­ritik (2007), H.-C.-ArtmannPre­is (2013), Ernst-Jandl-Preis (2015).

 ?? Foto: Reuters ?? Sebastian Kurz ist Kanzler. Viele meinen, er sei zu unerfahren dafür. Die unbeantwor­tete Frage bleibt: Wie konnte er es dann werden?
Foto: Reuters Sebastian Kurz ist Kanzler. Viele meinen, er sei zu unerfahren dafür. Die unbeantwor­tete Frage bleibt: Wie konnte er es dann werden?

Newspapers in German

Newspapers from Austria