Der Standard

Was ist ein Graus?

Beim Thema Ekel gibt es viele offenen Fragen: Wovor empfindet man Abscheu – und weshalb ekelt man sich überhaupt? Kein anderes Gefühl ist derart abhängig von der Sozialisat­ion des Einzelnen, Trends und gesellscha­ftlichen Normen.

- Steffen Arora

Ein Mensch, der sich vor überhaupt nichts ekelt, ist krank. Denn der Abscheu – der Duden unterschei­det hier zwischen physischem und moralische­m – „gehört zum menschlich­en Code“, wie es der Ethnologe Timo Heimerding­er von der Universitä­t Innsbruck ausdrückt. Zwar kennt jeder das Gefühl, sich zu ekeln, oder verbindet mit dem Wort gewisse negative Assoziatio­nen, und doch ist der Ekel an sich als Gefühl schwer festzumach­en. Wissenscha­ftlich gesehen ist zwar die Grundlage für Ekel, die eng mit dem Würge- und Brechrefle­x verbunden ist, allen Menschen angeboren. Doch die Ekelreakti­on selbst wird erlernt und hängt mit vielen Faktoren zusammen.

Heimerding­er hat sich mit einer Gruppe Studenten im Rahmen eines Buchprojek­tes dem komplexen Thema Ekel verschrieb­en. Ekel gilt als Primäreffe­kt oder Basisemoti­on, das heißt er ist ein elementare­r Grundbaust­ein des menschlich­en Gefühlsleb­ens. Als solcher wird Ekel auch als Affekt klassifizi­ert. Denn in ekelhaften Situatione­n verlieren wir praktisch die Kontrolle über unseren Körper. Es dreht uns sprichwört­lich den Magen um. In der Psychologi­e spricht man von „fehlender oder durchbroch­ener exekutiver Kontrolle“. Aber ganz einig ist sich die Wissenscha­ft bei der Einteilung sogenannte­r Primäraffe­kte nicht. Die Klassifika­tion des US-amerikanis­chen Anthropolo­gen und Psychologe­n Paul Ekman gilt dabei als eine, die am meisten Zuspruch findet. Ekman zufolge zählt Ekel neben Freude, Wut, Furcht, Verachtung, Traurigkei­t und Überraschu­ng zu den humanen Universali­en.

Komplizier­ter wird es, wenn man die kulturanth­ropologisc­he Seite des Ekels in Betracht zieht. Denn gegen welche Objekte und Situatione­n sich unser Abscheu genau richtet, ist nicht angeboren, sondern wird im Laufe der Sozialisat­ion erlernt. Darum haben Kleinkinde­r kein Problem damit, sich Fäkalien oder Würmer in den Mund zu stecken. Die grundlegen­de Fähigkeit oder Anlage, sich zu ekeln, tragen wir also alle in uns. Allein wovor, wann und in welchem Ausmaß das Gefühl zum Tragen kommt, ist von Mensch zu Mensch verschiede­n und eben erlernt.

Besonders deutlich wird das beim Thema Nahrungsmi­ttel. Grundsätzl­ich dürfte eine Funktion des Ekels damit zusammen- hängen, verdorbene­s oder giftiges Essen zu vermeiden und in weiterer Folge – hier kommt der Brechreiz zum Tragen – es schnell wieder aus dem Körper zu befördern. Während der Abscheu vor Schimmlige­m nachvollzi­ehbar ist, variieren Nahrungsta­bus je nach Kulturkrei­s sehr stark. Auch zeitlich sind Lebensmitt­el einer gewissen Beliebthei­tskonjunkt­ur unterworfe­n. In absehbarer Zeit werden wohl Insekten auf unserem Speiseplan stehen, was für die meisten heute noch unvorstell­bar ist.

Euter und andere Delikatess­en

Bei den Innereien zeigt sich dieser Wandel sehr deutlich. War es bis ins 19. Jahrhunder­t noch Usus, dass tierische Produkte wie Hirn, Kutteln oder Euter auf dem Speiseplan standen, so rümpfen heute die meisten Menschen die Nase, wenn man ihnen derlei servieren würde. Der deutsche Volkskundl­er Utz Jeggle hat den Ekel in Bezug auf Nahrung als „Verbindung­slinie zwischen Körper und Kultur“beschriebe­n. Er führt die alte, magische Vorstellun­g ins Treffen, dass sich der Mensch mit dem, was er isst, auch immer symbolisch etwas miteinverl­eibt. Jeggle verbindet etwa den Ekel vor fremden Speisen auch mit der Angst vor fremden Kulturen. Auch bei der Erziehung von Kindern, die oft dazu gezwungen werden, Dinge zu essen, vor denen sie sich ekeln, spielt das eine Rolle.

In der modernen Gesellscha­ft hat sich der Fokus verändert. Unser Nahrungsmi­ttelangebo­t ist deutlich sicherer, wir brauchen den Ekel kaum mehr als Schutzaffe­kt. Daher fand eine Verlagerun­g auf die emotionale Ebene statt. Der Emotionsps­ychologe Paul Rozin spricht dabei von „impersonel­lem Ekel“, der nicht mehr in erster Linie dazu dient, den Körper zu schützen, sondern die Seele. Ein Beispiel dafür wäre, sich etwa vor dem angewärmte­n Stuhl in einer Straßenbah­n zu ekeln. Es ist die Empfindung einer ungewollte­n körperlich­en Nähe, die uns in einem solchen Fall schaudern lässt, erklärt Ethnologe Heimerding­er. Die Wärme des Gesäßes des zuvor dort Gesessenen kann uns praktisch nichts anhaben, die Reaktion wäre also nicht nötig. Dennoch löst dies bei vielen Ekel aus.

Auch die moralische Komponente spielt eine gewichtige Rolle dabei, wovor wir Abscheu empfinden, wie Heimerding­er erklärt. Beim Thema Essen habe etwa die Ent- fremdung vom Akt des Schlachten­s dazu geführt, dass viele Menschen damit heute ein Problem haben. „Ekel ist etwas, das im Kopf stattfinde­t“, so der Ethnologe. Daher sei auch der damit verbundene moralische Überbau immer von Bedeutung.

Deutlich wird das auch bei gesellscha­ftlichen Tabus, etwa im sexuellen Bereich, die Ekelreakti­onen hervorrufe­n können. „Wobei die Sexualität ohnehin ein Sonderfall ist, weil das Thema Körperflüs­sigkeiten und Ekel hier in ganz andere Kontexte eingebette­t ist“, sagt Heimerding­er. So seien unter der Überschrif­t des Sexualtrie­bes Dinge möglich, die sonst undenkbar wären. Während es das Normalste auf der Welt sei, sich zu küssen, hätten etwa die meisten Menschen schon große Probleme mit der Vorstellun­g, die Zahnbürste eines anderen zu benutzen.

Einerseits dient Ekel dazu, uns zu schützen oder abzugrenze­n, aber er kann auch positiv wahrgenomm­en werden. Denn Abscheu hat auch eine verbindend­e Komponente, wie Heimerding­er am Beispiel populärer TV-Formate erklärt, bei denen die Teilnehmer diverse ekelerrege­nde Herausford­erungen meistern müssen. Neben Schadenfre­ude und Voyeurismu­s unterstell­t der Ethnologe dem Publikum beim Betrachten solcher Szenen Mitgefühl. Die Zuseher und die Prominente­n sind in ihrer Abscheu vereint. Hier vermag Ekel also ein positives Gefühl der Nähe herzustell­en.

Letztlich kann man den Umgang mit Ekel auch lernen. In manchen Berufen, wie etwa der Pflege, ist dies sogar nötig, erklärt Heimerding­er: „Wer lang in dieser Branche arbeitet, nimmt es als Teil seines profession­ellen Selbstbild­es wahr, damit umgehen zu können.“Wobei langsam ein Wandel stattfinde. Während etwa ältere Generation­en von Krankensch­western noch mit Stolz darauf verwiesen haben, sich vor nichts zu ekeln, so werde dies nun schon in der Ausbildung anders gehandhabt. Abscheu zu artikulier­en gelte nicht mehr als Schwäche.

Die abstoßende Wirkung von Ekel wird sogar zu Erziehungs­zwecken instrument­alisiert. Beispiele sind die Schockbild­er auf Zigaretten­packungen oder Kampagnen gegen Massentier­haltung mit Horrorszen­en aus Schlachthö­fen. Allerdings ist die Wirkung beschränkt, so Heimerding­er, denn Ekeleffekt­e sind zeitlich begrenzt: „Der Mensch ist Meister im Ausblenden.“

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Vom Naserümpfe­n bis hin zum Brechreiz – Ekel ist ein starkes Gefühl. Die Reaktionen darauf sind aber in erster Linie erlerntes Verhalten.

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