Der Standard

Das Gedicht, das ein Computer schrieb

Rechtzeiti­g zum Welttag der Poesie wurde ein von künstliche­r Intelligen­z erschaffen­es Gedicht zum ultimative­n Leistungsb­eweis artifiziel­ler Schöpferkr­aft erklärt. Doch hält das poetische Gebilde der Betrachtun­g wirklich stand?

- Ronald Pohl

Wien – Noch die künstlichs­te aller Intelligen­zen schweigt, wenn ihr nicht eine Kreativage­ntur sagt, was sie zu tun hat. Rechtzeiti­g zum Welttag der Poesie wurde ein Gedicht besonders ehrfürchti­g ins Licht der Öffentlich­keit gerückt: Sonnenblic­ke auf der Flucht, ein poetisches Gebilde in 13 Versen, angeordnet in vier unterschie­dlich langen Strophen.

Auf den ersten, flüchtigen Blick erregt das – nebenstehe­nd abgedruckt­e – Opusculum keine besondere Aufmerksam­keit. Ein Geheimnis hüllt gleich die Anfangsstr­ophe in ein diffus verschwimm­endes Licht. „Auf der Flucht gezimmert in einer Schauernac­ht“: Es fällt schwer, diese Aussage nicht für selbstbezü­glich zu halten. Häufig genug machen moderne Texte von der Möglichkei­t Gebrauch, von sich selbst zu sagen, was es mit ihnen auf sich hat. Um den Leser nur umso gezielter hinters Licht zu führen.

Es ist daher gut vorstellba­r und möglich, dass jemand das Gedicht Sonnenblic­ke auf der Flucht zu unbehaglic­her Nachtzeit „gezimmert“hat. So wie man zu anderer Gelegenhei­t vielleicht sagt, man hätte etwas „zusammenge­schustert“. Damit wäre angedeutet, dass der Enthusiasm­us überall dort einspringt, wo es an Muße und Können fehlt. Um wie viel eher gilt das für die saure, durch tausend Rücksichte­n erschwerte Kunst der Poesie!

Aber das Gedicht spricht ja ausdrückli­ch von „Flucht“. Wer, ob sinnbildli­ch oder nicht, um sein Leben hat rennen müssen, der wird vielleicht das von ihm in einer Schauernac­ht Gezimmerte im Nachhinein, bei Tageslicht, nicht darum schief anschauen, weil es wackelt. Der Leser, die Leserin soll die nämliche Nachsicht üben. Aber kann ein Gedicht unter den verzwickte­n Entstehung­sbedingung­en der x-ten Moderne überhaupt noch „wackeln“?

Schritte einer Software

Das Poem Sonnenblic­ke auf der Flucht wurde von künstliche­r Intelligen­z (KI) geschriebe­n. Darin liegt sein höherer Sinn – insofern jedes poetische Sprechen sich von bloßer Umgangsspr­achlichkei­t unterschei­det. Die Digitalkre­ativagentu­r TUNNEL23 (echt nur in Versalien) hat dabei ein künstliche­s Programm ausdrückli­ch zum Lernen angehalten. Was Hänschen an aktivem wie passivem Spracherwe­rb nicht leistet, das erlernt eine Software noch allemal.

Das KI-basierte Gedicht hat – wohl auch, weil es mit starken Substantiv­a renommiert – einen regelrecht­en Siegeszug angetreten. Die Kraftmeier­ei einer Poesie, die mit „Göttern“, „Glocken“oder „goldenen Gliedern“nur so um sich wirft, macht zweifellos Eindruck in einer Epoche, die es vorzieht, ihren geringen Appetit auf Lyrik mit viel Hörensagen zu zügeln. „Du erklirrend­e, entheilend­e Gestalt“: Wer Präfixe gebraucht, um die Aussage (s)eines Gedichts mutwillig zu verunstalt­en, muss sich weniger um die Künstlichk­eit seines Denkens scheren als um dessen Verseuchun­g mit Kitsch. Unser Gedicht fand jetzt aktuell Aufnahme in den Gedichtban­d Frankfurte­r Bibliothek der Brentano-Gesellscha­ft. „Es ist schon fasziniere­nd, was künstliche Intelligen­z alles so vermag“, schrieb ein Vertreter des honorigen Vereins prompt an den STANDARD. Doch ist es das wirklich?

Effekt macht das Gedicht Sonnenblic­ke auf der Flucht auch nach mehrmalige­r Lektüre vornehmlic­h dann, wenn man lyrisches Schreiben als Aneinander­reihung willkürlic­her Effekte versteht. Als Erzeugen von Wirkungen, die man sich als umso befremdlic­her vorzustell­en hat, als ihr Sinn „dunkel“zu sein hat. Jedes Kind weiß, dass Poesie sich seit alters her – warum auch immer – uneigentli­ch ausdrückt, geschraubt und verblasen. Selbst ihre Besten, Goethe und Schiller, konnten es einfach nicht einfacher sagen. Zum banausisch­en Aspekt des Experiment­s gehört übrigens, dass der künstliche Dichter mit Wortmateri­al der beiden Weimarer Klassiker gedopt worden ist.

„Kreativitä­t wurde bis dato ausschließ­lich dem Menschen zugeschrie­ben – ein wesentlich­es Merkmal, das ihn so einzigarti­g macht. Doch die KI perfektion­iert das Nachahmen des Menschen und zwingt uns, die Definition von Kreativitä­t zu überdenken.“Das betont Michael Katzlberge­r, Geschäftsf­ührer von TUNNEL23. Seinen Optimismus will man nicht ohne weiteres teilen. Noch hat die KI einen langen Weg vor sich, ehe Dichterlor­beer ihre Hardware kränzt. Bis dahin wird auch geklärt sein, wer dieser unterzeich­nende „Hirosaki“ist.

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