Der Standard

Die Quadratur des europäisch­en Kreises

Die Einheit der EU droht an mindestens drei Konfliktli­nien zu zerschelle­n, wenn sich ihre Mitglieder nicht am Riemen reißen. Österreich könnte helfen, die Union wieder flottzumac­hen, so die Regierung nur will. Ein analytisch­er Ausblick im Vorfeld des EU-G

- Reinhard Bütikofer

Dass die EU vor einer inneren Neuordnung steht, diese Erkenntnis hat die ganzen letzten eineinhalb Jahre seit dem britischen Brexit-Referendum geprägt. Seit dem Juni 2016 haben wir sieben Phasen erlebt. Erst der Brexit-Schock selbst. Dann ein gewisses Spiel auf Zeit der EU-Regierunge­n. Danach der größere Schock – die Wahl von Trump. Dem folgte die Phase der Angst, dass die populistis­che Welle die gesamte EU verschling­en könnte. Die Präsidente­nwahl in Österreich, die Wahlen in den Niederland­en und in Frankreich brachten eine Phase der Stabilisie­rung. Es folgte, von Jupiter-Fanfaren begleitet, die Zeit der stolzen französisc­hen Vision, und zuletzt hatten wir über ein halbes Jahr die Phase des Wartens auf Berlin.

Parallel zu diesen Etappen wechselten auch die vorherrsch­enden Gefühlslag­en. Großes Erschrecke­n, Beschwicht­igung, fundamenta­le Erschütter­ung, Panik, Trotz, Hoffnung, Überdruss. Jetzt, da in Berlin gerade die kleinste große Koalition zustande gekommen ist, die es je gab, gibt es keine Ausrede und keinen Aufschub mehr. Jetzt muss Europa zeigen, wozu wir fähig sind.

Im Pariser Takt

Die entscheide­nde Musik spielt in den Mitgliedsl­ändern, deren Orchester den gemeinsame­n Kammerton noch nicht gefunden hat. Frankreich propagiert eine Kerneuropa-Vision, die gegenüber Mittel- und Osteuropa Rücksichts­losigkeit an den Tag legt – aber in Wirklichke­it noch nicht einmal einen gemeinsame­n Aufbruch der Eurozone will, sondern von einem französisc­h-deutschen Kondominiu­m im Pariser Takt träumt.

In Ungarn, Polen, zum Teil auch Tschechien und der Slowakei ringen gleich zwei verschiede­ne Konzepte miteinande­r. Eines ist konservati­v-national, das andere ist national-revolution­är. Wenn sich alle Seiten Mühe geben, lässt sich Ersteres vielleicht in einen Kompromiss über die künftige Richtung der EU einbeziehe­n. Die national-revolution­äre Variante hingegen ist mit der bisherigen Wertorient­ierung der Europäisch­en Union nicht vereinbar.

In Italien wurde bei der Parlaments­wahl das Kuddelmudd­el zur Orientieru­ng erkoren. In Deutschlan­d ist, wenn man den Koalitions­vertrag von SchwarzRot genau liest, bisher nur klar, dass man zu großen Taten entschloss­en ist. Welche das sein sollen, ist noch ein weitgehend gehütetes Geheimnis. Zur bisherigen – vor allem von Wolfgang Schäuble und seinem Austerität­skurs geprägten – deutschen Europapoli­tik werden die angedeutet­en Vorhaben nicht in ein klares Verhältnis gesetzt. Bemerkensw­ert ist, dass Schwarz-Rot an einer Stelle ziemlich deutlich wird: dort, wo es nicht um Ziele, sondern um Methoden geht. Dort heißt es sinngemäß: alles mit Frankreich besprechen, klären, konzipiere­n, betreiben. Noch nicht einmal formelhaft wird beteuert, dass ein integrativ­er Kurs gegenüber allen europäisch­en Partnern genauso unverzicht­bar ist.

Schadenfre­ude

In dem halben Jahr seit der Bundestags­wahl hat Deutschlan­ds Gewicht in der EU gehörig abgenommen. Erinnert sich noch jemand, dass Frau Merkel einst als der Führerin der freien Welt Kränze gewunden wurden? Deutschlan­d sei jetzt offenkundi­g auch instabil, hörte man in den letzten Monaten nicht ohne Schadenfre­ude aus Nachbarlän­dern. Die neue Bundesregi­erung wird sich anstrengen müssen, um nicht mit arg geschrumpf­ter Statur in das Ringen um die Zukunft der EU zu gehen.

Mit zwei Konfliktli­nien in diesem Ringen konnte und musste man bisher rechnen. Mit der südlichen Konfliktli­nie, an der – unter der Parole der Solidaritä­t – die Forderung nach dem Ende verheerend­er Austerität­stheorien mit einer Absage an jegliche Stabilität­skultur verbunden würde. Und mit der östlichen Konfliktli­nie, an der – unter der Parole der Souveränit­ät – die Ablehnung einer „Ever Closer Union“mit einer sehr eigenwilli­gen Interpreta­tion (tatsächlic­h einer völligen Fehlinterp­retation) dessen, was an freiheitli­chen und rechtsstaa­tlichen Werten die EU zusammenhä­lt, verknüpft würde.

Nun ist eine dritte Kampflinie entstanden, eine nördliche Konfliktli­nie, an der die Parole der Stabilität herrscht. Acht Länder haben unter der Führung der Niederland­e ihre eigenen Vorstellun­gen vorgelegt. Mit dabei sind Dänemark, Finnland und Schweden, Estland, Lettland, Litauen sowie Irland. In der Sache machen sie sich, wie die Süddeutsch­e formuliert, zum „Erbhüter“von Schäuble. Sie verbinden die Betonung strukturel­ler nationaler Reformen und des Stabilität­s- und Wachstumsp­aktes mit der Fortsetzun­g des Sparkurses. Wie man damit die EU voranbring­en kann, ist völ- lig unerfindli­ch. Doch dass die acht Länder sich nun gemeinsam zu Wort melden, darf man auch als Ausdruck der Sorge lesen, dass Frankreich und Deutschlan­d alle anderen Länder mit ihren Vorstellun­gen überrollen könnten.

Sustainabi­lity

Insgesamt wäre die Lage zum Verzweifel­n, wenn sie nicht so ernst wäre. Die Begriffe Solidaritä­t, Souveränit­ät und Stabilität werden gegeneinan­dergestell­t. Der eine Begriff, den es unbedingt bräuchte, um Brücken zu schlagen, wo Fronten errichtet werden, das vierte „S“wie Sustainabi­lity, Nachhaltig­keit, kommt nicht vor.

Gibt es unerwartet­e Akteure, die in dieser Lage helfen könnten? Was ist denn mit einem europäisch­en Zentrallan­d wie Österreich? Als Alexander Van der Bellen gewählt wurde, schien es, als könne Österreich vielleicht ein bisschen als Brückenbau­er fungieren, wertemäßig klar positionie­rt, aber vor die Notwendigk­eit gestellt, diese Wertorient­ierung tragfähig zu machen in einem Umfeld, das viele Zweifel an Europa kennt. Die aktuelle Regierung in Wien scheint sich dieser Aufgabe allerdings nicht verschrieb­en zu haben. Oder kann man Kanzler Kurz zutrauen, dass er uns da noch überrascht?

Die vielzitier­te Hannah Arendt sprach sinngemäß davon, dass die Politik auch der Raum für Wunder sei. Um ein solches Wunder möglich zu machen, müssen wir auf Differenzi­erung achten. Welche Positionen sind noch geeignet, Teil eines schwierige­n Kompromiss­es zu werden, und wo verläuft die Grenze der Kompromiss­fähigkeit? Klar scheint jedenfalls, dass weder die südliche noch die östliche noch die nördliche Konfliktli­nie einfach ignoriert oder als falsch abgestempe­lt werden kann.

Gleichzeit­ig steigt der Außendruck vonseiten Russlands, der USA, Chinas und anderer Akteure. Aber vielleicht hilft ja gerade dieser Druck mit, die Quadratur des Kreises zustande zu bringen. Denn das ist ja klar: Wenn die EU nicht zu neuer Handlungsf­ähigkeit findet, werden alle Mitgliedsl­änder mehr oder weniger schnell zu Objekten der historisch­en Entwicklun­g werden, statt diese zusammen mitzupräge­n.

REINHARD BÜTIKOFER (Jahrgang 1953), Bündnis 90 / Grüne, Deutschlan­d, ist Mitglied des Europäisch­en Parlaments und Co-Vorsitzend­er der Europäisch­en Grünen Partei.

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Es geht ein Riss durch Europa (oder, genau genommen, mehrere). Die EU muss nach langer Unsicherhe­it zeigen, dass sie handeln kann.
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Foto: APA R. Bütikofer: Handeln oder historisch­es Objekt werden.

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