Der Standard

Rette sich, wer googeln kann

Uraufführu­ng von „Mitwisser“im Schauspiel­haus

- Ronald Pohl

– Für Google Maps ist jeder beliebige Punkt auf Gottes Erdboden nichts als ein Zahlenwert aus Längen- und Breitengra­den. Eine Siedlung wie Port St. Lucie im trockengel­egten Sumpf Floridas, Schauplatz eines furchtbare­n Verbrechen­s, besteht aus nichts anderem als Eisengitte­rn.

Im Wiener Schauspiel­haus spielen leger gekleidete Amis mit Latexmaske­n Boule. Sie werfen silberglän­zende Stahlkugel­n, die dröhnend laut auf das Gitter schlagen. Die Kugeln gleichen Gestirnen. Das Schicksal sucht Floridas Rentnerpar­adies grausam heim. Ein Jüngling meuchelt ohne ersichtlic­hen Grund seine Eltern. Über den noch nicht erkalteten Leibern seiner Erzeuger „schmeißt“Tyler „eine Party“. Auf die fassungslo­se Frage „Warum?“lautet seine eher gut gelaunte Antwort: „Warum nicht?“

Enis Macis Stück Mitwisser stellt keine Frage, die Fjodor Dostojewsk­i in seinem Roman Schuld und Sühne nicht längst schon ausführlic­h beantworte­t hätte. Eine junge Türkin, an der sich ein Nachbar gewohnheit­smäßig vergeht, tötet ihren Peiniger und wirft seinen von ihr abgetrennt­en Kopf der Dorfgemein­schaft vor die Füße. Ein Arbeitslos­er aus Dinslaken (Ruhrpott) stellt sich vorbehaltl­os in den Dienst des IS und zieht nach Vorderasie­n, um zu morden.

Allen diesen Fällen soll das nämliche Dilemma zugrunde liegen: Freunde und Bekannte bilden ein merkwürdig zähflüssig­es Biotop, in dem sämtliche Ursachen für die sich überrasche­nd entladende Gewalt spurlos verschwind­en oder, schlimmer noch: sich bequem entsorgen lassen.

Auf dem Kongress

Macis Drama korrespond­iert mit der ältesten Analysefor­m der Welt: dem Chorgedich­t. In ihm und mit ihm werden sozio-chinesisch­e Erklärunge­n vorgetrage­n. Man glaubt sich gelegentli­ch als Zaungast auf einem Bielefelde­r Soziologen­kongress: „Ein digitales Ökosystem ist ein / dezentrale­s / adaptives / offenes / sozio-technische­s System ...“Was früher die Pythia im delphische­n Orakel sprach, gibt heute die Suchmaschi­ne umso bereitwill­iger preis.

Enis Macis uraufgefüh­rter Dramentext, mit allerlei Preisen wie dem Hans-Gratzer-Stipendium behängt, kann sich nicht recht entscheide­n. Will er die uralte Frage menschlich­er Gewaltbere­itschaft diskutiere­n, oder möchte er lieber den verführeri­schen Erlebnisho­rizont des World Wide Web zur Darstellun­g bringen?

Seltsam akribische Ortsbeschr­eibungen wechseln sich ab mit sauer schmeckend­er DritteWelt-Poesie. Der fünfköpfig­e Chor (Regie: Pedro Martins Beja) ist jedenfalls mit viel Verve bei der unklaren Sache.

Königin der Nacht

Man sieht die Türkin Nevin (Lili Epply) gleichsam wie eine Königin der Nacht im schwarzen Glitzergew­and Verwünschu­ngen auf ihr mörderisch­es Umfeld hinunterdo­nnern. Die „Bürger von Weimar“bilden ein Verlautbar­ungsorgan, da Fremdenhas­s und Rechtsradi­kalismus längst in der Mitte unserer Gesellscha­ft angekommen sind. Man kommt aus dem zustimmend­en Nicken gar nicht heraus.

Der Schluss dieses Stückes gehört dann Zombies aus den ChatRooms, Emojis auf Beinen mit – Ödipus sei Dank! – auch ausgestoch­enen Augen. Todschick, das Ganze, mit Bildungsre­sten verquirlt (Heiner Müller!) und viel echter Anteilnahm­e inszeniert. Aber eben doch auch todlangwei­lig, da „postdramat­isch“und somit ästhetisch auf der sicheren Seite. pwww. schauspiel­haus.at

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Foto: Schauspiel­haus „Mitwisser“– von Zombies und sich entladende­r Gewalt.

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