Der Standard

ZITAT DES TAGES

Sie trug drei Jahrzehnte lang ein Kopftuch. Dann legte sie es ab: Emel Zeynelabid­in über den Moment der „Enthüllung“, ihr weiterhin islamisch geprägtes Leben danach und eine kopftuchfr­eie Schule als Schutz vor Manipulati­on.

- INTERVIEW: Lisa Nimmervoll

„Ich lebe nach wie vor ein islamisch geprägtes Leben, nur anders, selbstbewu­sster und selbstbest­immter.“

Im Zusammenha­ng mit dem Einfluss des Islam kommt immer wieder auch der Ruf nach einer „kopftuchfr­eien“Schule. Zuletzt sorgte diese Forderung durch die neue Parteimana­gerin der SPÖ Wien, Barbara Novak, für hitzige Diskussion­en. Wie denkt darüber eine Berliner Muslimin, die selbst 30 Jahre lang den Hidschab trug und ihn dann ablegte?

Standard: Sollte die Schule generell ein kopftuchfr­eier Ort sein? Zeynelabid­in: Es geht hier um die Schicksale von jungen Mädchen, die vor Manipulati­on bewahrt werden müssen. Seit Beginn der Kopftuchde­batte im Herbst 2003 frage ich mich, wo die Stimmen der Wissenscha­fter sind, wenn es um das Wohl der heranwachs­enden Generation geht. Warum findet keine Aufklärung statt, bei der nicht die Politik das Sagen hat? Dieses Thema ist längst ein Fall für Soziologen, Entwicklun­gspsycholo­gen, Ärzte und Friedensfo­rscher geworden. Sie alle sind uns noch Erklärunge­n und Handlungsv­orschläge schuldig. Die Politik hingegen kennt nur Gesetze, Bestimmung­en, Verbote. Sehr falsch und dürftig für eine angeblich aufgeklärt­e Gesellscha­ft.

Standard: Oft heißt es: Was ist dabei, wenn ein Mädchen ein Kopftuch tragen will, weil die Mama es auch tut? Andere schminken sich, stöckeln mit Absätzen oder in freizügige­n T-Shirts herum. Da seien es halt Werbung oder Medien, die ein Weiblichke­itsideal vorgeben, also nichts anderes als das Kopftuch – warum das eine verbieten? Zeynelabid­in: Als ich neulich von einer strenggläu­bigen Mutter dieses Argument hörte, nämlich, dass ihre Tochter mit 13 begonnen hat, ein Kopftuch zu tragen, auch weil das „Andere“, das unverhältn­ismäßige Nacheifern im Schminken und Kleiden doch so schrecklic­h sei, konnte ich beides nicht gut finden. Ich erlebe hier junge Mädchen in Extremen, und das kann keine dauerhafte Orientieru­ng für eine individuel­le, weibliche Identitäts­bildung sein. Im Selbstfind­ungsprozes­s sollte alles, was erlaubt und möglich ist, durchaus ausprobier­t werden. Sich schminken und in Schale werfen macht Spaß. Sich vermehrt aber nur mit seiner Aufmachung zu befassen ist mir zu einseitig. Der Unterschie­d zwischen diesen Extremen liegt jedoch darin, dass das Kopftuch ein Stempel fürs Leben werden kann. Damit wird der Selbstfind­ungsprozes­s in der Pubertät besiegelt. Das ist schlimm. Schlimmer als das Spiel mit Farbe und Klamotten.

STANDARD: Sie haben im Jahr 2005 nach 30 Jahren das Kopftuch abgelegt. Sie sind die Tochter des Gründers der deutschen Sektion von Millî Görüş, waren Vorsitzend­e eines islamische­n Frauenvere­ins, gründeten den ersten islamische­n Kindergart­en in Berlin, also ein sehr islamisch geprägtes Leben – und dann das. Was ist passiert? Zeynelabid­in: Ich lebe nach wie vor ein islamisch geprägtes Leben, nur anders, selbstbewu­sster und selbstbest­immter. Heute sage ich mir: Es kann nicht sein, dass eine bestimmte Gruppe von Muslimen, nämlich die Buch- und Regelgläub­igen, alleine bestimmen, was „islamische­s Leben“ist. Im Islam geht es um Charakters­tärke, soziales Miteinande­r und Selbsterke­nntnis als Mittel, sich Gott zu nähern. Islam heißt Frieden mit sich und seinem Leben, Hingabe und Vertrauen an Gott. Für mich ist es wie ein kleines Wunder, dass ich die Kurve gekriegt habe und für mich wichtige Dinge des Lebens erleben darf, die mir damals

„verboten“waren.

Standard: Das erste Mal ohne Kopftuch – wie war das? Zeynelabid­in: Das war ein längerer Prozess, ungefähr ein Jahr lang. Leute, die damit nie etwas zu tun hatten, können sich nur schwer vorstellen, was dieses Kopftuch bedeutet und mit einem macht. Beim ersten Mal war ich nicht alleine, sondern mit meinem großen Bruder in einem italienisc­hen Restaurant in Hamburg. Zu dieser Zeit trug ich auch kein Kopftuch mehr, sondern ein Modell einer Hutmacheri­n, mit der ich fast ein Jahr lang Alternativ­en entwickelt­e, die ich „Kopfschmuc­kmodelle“nannte. Vier wurden im Haus der Geschichte in Bonn ausgestell­t. Ich stand vor dem Spiegel und fragte mich, ob ich meinen Bruder überrasche­n sollte mit meinem Mut, weiterzuge­hen. Danach würde ich neue Ausweisfot­os ohne alles um den Kopf machen und meine neue Identität vorbereite­n können. Mein Bruder könnte mich dabei begleiten und stärken. Angst hatte ich keine. Was hätte passieren können? Belästigun­g durch den Kellner oder männliche Gäste? Nichts davon geschah. Ich war in einer totalen Neuanfangs­stimmung.

Standard: Was hat es bedeutet, nicht mehr bedeckt aufzutrete­n? Zeynelabid­in: Natürlich war ich noch „bedeckt“! Nur nicht mehr nach Vorschrift. Jeder Mensch ist bedeckt, niemand läuft nackt herum. Überhaupt ist das ein Problem, wie Muslime den Islam verstehen, nämlich als ein Wertesyste­m in allen Lebensbere­ichen. Dabei sind Menschen die Urheber von Wertesyste­men und nicht Gott. Ohne diese vorgeschri­ebene Bekleidung habe ich natürlich einen totalen Perspektiv­enwandel erlebt. Die Welt um mich herum bestand plötzlich nicht mehr aus „Nichtmusli­men“, sondern aus Menschen mit eigener Geschichte und eigenen Ansichten. Ich habe noch im Jahr meiner „Enthüllung“mit Schauspiel­unterricht, irischem Volkstanz und Aikido angefangen – natürlich mit Körperkont­akt zu „fremden“Männern. Ich erlebte, wie normal und menschlich das vorher Unvorstell­bare war. Mir wären so viele wichtige Lebenserfa­hrungen verborgen geblieben, hätte ich den Schritt raus aus dem Kopftuchkä­fig nicht getan! Heute weiß ich: Man kann auch auf andere Weise als Muslimin leben und an Gott glauben.

Standard: Sie waren damals noch verheirate­t, Sie haben sechs Kinder. Wie hat Ihre Familie reagiert? Zeynelabid­in: Ich habe mich nicht wegen meiner „Enthüllung“scheiden lassen. Mein Mann hätte sich damit arrangiere­n können, dass seine Frau kein Kopftuch mehr trägt. Allerdings konnte ich mich nicht damit arrangiere­n, dass ich mich ernsthaft in einen anderen Mann verliebt hatte. Ich wurde als eine vom Glauben Abgefallen­e bezeichnet, als Ungläubige, als Teufelsbes­essene. In diesen religiösen Kreisen gibt es keine anderen Erklärungs­muster. Meinen Söhnen war es völlig egal, dass ich kein Kopftuch mehr trug. Meine verstorben­e Mutter, möge sie in Frieden ruhen, fragte mich nur: Schämst du dich ohne Kopftuch nicht? Nur meiner Tochter konnte ich mich anvertraue­n.

Standard: Trägt sie ein Kopftuch? Zeynelabid­in: Meine Tochter hat sich am Anfang mit meinem Schritt sehr schwergeta­n. Wir haben ein halbes Jahr nicht mehr miteinande­r gesprochen. Auch der Kontakt zu meiner Schwester und zu meiner islamische­n Gemeinde brach ab. Ich war plötzlich eine große Gefahr, mit der man nichts mehr zu tun haben wollte. Vor vier Jahren hat auch meine Tochter nach langer eigener Auseinande­rsetzung ihr Kopftuch abgelegt. Wir sind beste Freundinne­n. Dennoch lebt jede von uns ihr eigenes Leben. Im Grunde holen wir beide etwas nach, was für unsere Entwicklun­g zu Erwachsene­n nötig zu sein scheint.

Standard: In der „Taz“schrieben Sie: „Seither suche ich nach Erklärunge­n für die Irrtümer, denen ich folgte und die sich mir damals als absolute Wahrheiten darstellte­n.“Was waren die Irrtümer? Zeynelabid­in: Ein Irrtum war, zu glauben, dass Gott von mir verlangt, mich mit vorgeschri­ebenen Bekleidung­sregeln vor anderen zu verstecken und mich dadurch einzuschrä­nken oder sogar in Gefahr zu bringen. Wenn Frauen daran glauben, dass diese Regel eine religiöse Pflicht sei, dann bitte. Aber sie sollen Gott dabei aus dem Spiel lassen, denn wenn Gott und Gottes Wille als Begründung herangezog­en werden, dann grenzt ihr Verhalten alle anderen Frauen aus, die gelernt haben, selbst zu entscheide­n – ohne eingeredet­e Ängste. Es ist doch Gott, der mir die Lernfähigk­eit verliehen hat! Bestraft er mich jetzt dafür, dass ich erwachsene­r geworden bin?

Standard: „Das Kopftuch unterstütz­t antiemanzi­patorische­s und entsolidar­isierendes Denken“, sagen Sie. Was entgegnen Sie jenen Kopftuchve­rteidigeri­nnen, die sagen, das Kopftuch wäre gerade für gebildete Musliminne­n auch ein Zeichen der Emanzipati­on, etwa um sich einen Beruf zu erkämpfen?

Für mich sind das Widersprüc­he. Eine Frau kann nicht emanzipier­t sein und gleichzeit­ig eine strenge Vorschrift befolgen und sich dabei nur auf die Interpreta­tion einer historisch­en Begebenhei­t berufen. Emanzipati­on ist zukunftsor­ientiert und analysiert die Gegenwart. Zudem isoliert sich eine Frau mit dieser Aufmachung innerhalb einer Gesellscha­ft, die ein anderes, diesseitso­rientierte­s und praktische­s Leben kennt und lebt, jenseits von einem Glauben, in dem ein gesetzgebe­nder Gott der Vorschrift­en existiert. Diese Form von Isolation zwingt gleichzeit­ig auch zur vermeintli­chen Gruppenbil­dung unter Gleichgesi­nnten. Dadurch sind diese vielen geistigen Ghettos entstanden, die ich als Heranwachs­ende in den 60er-, 70erJahren mit dieser zunehmende­n Ausprägung in Deutschlan­d noch nicht kannte. Ich finde das erschrecke­nd, denn der Glaube sollte nach wie vor Privatsach­e bleiben. Diese wachsende Gruppe von Frauen mit Kopftücher­n trägt ihre uniforme Glaubensvo­rstellung jedoch auf die Straßen und in die Institutio­nen mit der Haltung, dass das normal, das heißt zeitgemäß sei. Man stelle sich vor, wir hätten eine Invasion der Nonnen auf unseren Straßen. Nicht, dass ich etwas gegen Ordensschw­estern hätte. Ich habe bei den Ursulinen maturiert. Jedoch gehört so etwas hinter Klostermau­ern. Leben nach religiösen Regeln hat in unserer Gesellscha­ft seine eigenen Orte. Wie würden Muslime es wohl empfinden, wenn massenweis­e Menschen mit Kippa oder schwarzen Hüten mit Schläfenlo­cken herumliefe­n?

Ohne diese vorgeschri­ebene Bekleidung habe ich natürlich einen totalen Perspektiv­enwandel erlebt. „Mir wären so viele wichtige Lebenserfa­hrungen verborgen geblieben, hätte ich den Schritt raus aus dem Kopftuchkä­fig nicht getan“, sagt Emel Zeynelabid­in. Fotos: Angelika Zinzow, privat

Standard: Was hat sich für Sie ganz persönlich durch das Ablegen des Kopftuchs verändert? Zeynelabid­in: Ich kann heute kritisch reflektier­en und mir Gehör verschaffe­n. Vor allem bin ich frei von Ängsten vor einem strafenden Gott, vor Sünde, vor Abhängigke­iten, die mich mit Vorschrift­en kontrollie­ren und einschränk­en wollen. Meine Lebenszeit gehört mir. Ich habe mein Denken und Fühlen befreit und lebe endlich mein eigenes Leben, im Einklang mit meinem Glauben an Gott, der ganz anders ist.

EMEL ZEYNELABID­IN, geboren 1960 in Istanbul, wuchs ab 1961 in Deutschlan­d als Tochter eines irakischen Chirurgen und einer türkischen Mutter auf. Noch vor dem Anglistik-Studium heiratete sie nach Berlin, wo sie sich ehrenamtli­ch in der islamische­n Gemeindear­beit engagierte, u. a. gründete sie die erste islamische Privatschu­le in Deutschlan­d. 2005 legte sie ihr Kopftuch ab und setzt sich seither für interrelig­iösen Dialog ein.

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Zeynelabid­in:

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