Der Standard

Brasiliens Gespenster­jäger

Zum ersten Mal seit dem 1:7 im Halbfinale der Heim-WM kickt Brasilien wieder gegen Deutschlan­d. Die Partie in Berlin ist vielleicht der letzte Teil des Vernarbung­sprozesses. Teamchef Tite warnt vor falscher Demut.

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Berlin – Egal, wann der Heilsbring­er Tite auf das „Jahrhunder­tthema“angesproch­en wird – Brasiliens Nationaltr­ainer demonstrie­rt Gelassenhe­it in seiner Wortwahl und predigt mit ruhiger Stimme gebetsmühl­enartig: „Sie haben uns 7:1 geschlagen, wurden Weltmeiste­r. Das ist eine Etappe, und die ist vorbei.“Ist das Wiedersehe­n mit Deutschlan­d am Dienstag (20.45 Uhr, ZDF) im ausverkauf­ten Berliner Olympiasta­dion also ein ganz normales Fußballspi­el? „Nein. Die Wunde ist noch offen. Dieses Länderspie­l ist auch Teil des Prozesses der Vernarbung“, sagte Tite. „Das hat psychologi­sch viel Bedeutung, da muss man sich nichts vormachen. Das 7:1 ist ein Gespenst.“

Dabei ist der 56-Jährige gerade dabei, dieses Gespenst zu vertreiben. Nach dem historisch­en Halbfinald­ebakel bei der Heim-WM vor vier Jahren und dem anschließe­nden Stottersta­rt in die südamerika­nischen Eliminator­ias für Russland hat er die Selecao aus dem Stimmungs- und Leistungst­ief geholt. Seit dem 1. September 2016, als Adenor Leonardo Bachi, genannt Tite (sprich Tschitschi), gleich bei seiner Premiere mit einem 3:0 in Ecuador Aufbruchst­immung auslöste, sind es nun schon 14 Siege in 18 Spielen. Nur der Klassiker im vergangene­n Juni auf der Australien-Tour gegen Argentinie­n (0:1) ging verloren. Brasilien löste vor exakt einem Jahr sein WM-Ticket, ist früher als viele andere Favoriten im Experiment­iermodus für Russland.

Neue Geschichte

„Dieses Spiel wird unser Projekt nicht ändern. Wir werden bei einem Sieg weder die Besten noch bei einer Niederlage die Schlechtes­ten sein“, sagte Innenverte­idiger Miranda und ergänzte ganz im Sinne seines Chefs: „Wir müssen mental stark sein.“Aber der Abwehr-Organisato­r von Inter Mailand beteuerte auch: „Wir sind hier, um eine neue Geschichte zu schreiben.“

Das hört Tite gerne. „Das 1:7 ist passiert, und es ist weiter präsent. Die Leute reden oft genug darüber. Aber je mehr man darüber spricht, desto weniger verschwind­et dieses Gespenst.“Das 3:0 am Freitag in Russland war ein Test für die Offensive, gegen Deutschlan­d wird nun auch die Defensive geprüft. Denn diese kassierte unter Tite in nur fünf Spielen Gegentore, dabei aber nie mehr als einen Treffer. Torhüter Alisson (AS Roma) musste in der neuen Ära bei 14 Einsätzen gar nur dreimal hinter sich greifen.

Die Offensive

Prunkstück bleibt jedoch die Offensive mit dem neuen Juwel Gabriel Jesus, der für die Ablöse von 32,75 Millionen Euro im Jänner 2017 zu Manchester City kam. Auch Philippe Coutinho (160 Millionen) und Paulinho (40 Millionen), für die Barcelona fast die gesamte Verkaufssu­mme von Neymar (222 Millionen) auf den Schädel haute, sind glänzend aufgelegt. Willian geigt bei Chelsea.

Brasilien ist nicht mehr nur abhängig von Neymar, auch wenn Tite den Star von Paris SG in dessen Zwangspaus­e nach der FußOP als „unersetzli­ch“bezeichnet­e. Neymar fehlte übrigens auch beim 1:7 verletzt. Die Marschrout­e am Dienstag? „Unbefangen spielen, ohne Überheblic­hkeit und ohne falsche Demut“, sagte Tite. Deutschlan­d ist vierfacher Weltmeiste­r, Brasilien fünffacher. Vielleicht proben sie in Berlin auch nur für die Treffen mit Österreich am 2. Juni in Klagenfurt (Deutschlan­d) und am 10. Juni in Wien (Brasilien). Wahrschein­lich aber nicht. (red, sid)

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Brasiliens durchaus erfolgreic­her Teamchef Tite hofft, dass in Berlin die nationale Wunde geschlosse­n wird.

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