Der Standard

Menschlich­es, allzu Menschlich­es

Francis Bacon, Lucian Freud und viele andere: Die Londoner Institutio­n Tate Britain zeigt in der Großausste­llung „All Too Human“figürliche, meist männlich dominierte britische Malerei des 20. Jahrhunder­ts.

- Sebastian Borger aus London

Giacometti, Modigliani, Picasso – mit einer Retrospekt­ive nach der anderen widmet sich Tate Modern wichtigen Künstlern des 20. Jahrhunder­ts vom europäisch­en Kontinent. Unterdesse­n versucht das ältere Haus Tate Britain nicht nur, den in seinem Namen enthaltene­n Anspruch einzulösen, also britische Größen der jüngeren Kunstgesch­ichte zu zeigen. Die dortigen Kuratoren sind auch viel stärker daran interessie­rt, mehrere Künstler unter den Bogen einer Ausstellun­g zu spannen.

Für das jüngste Beispiel bediente sich Kuratorin Elena Crippa eines Buchtitels von Friedrich Nietzsche: Menschlich­es, Allzumensc­hliches (All Too Human) führt mehr als 100 figürliche Gemälde zusammen, die überwiegen­d in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts entstanden. Unverkennb­ar knüpft die Ausstellun­g an ein Kunstereig­nis von 1976 an. Damals führte der in London lebende amerikanis­che Maler Ron Kitaj (1932-2007) unter dem Titel Human Clay (Menschlich­er Lehm) figurative Gemälde von 48 Londoner Malern zusammen, darunter Berühmthei­ten wie Francis Bacon, Lucian Freud und Leon Kossoff, und prägte den Begriff der „Londoner Schule“. Explizit woll- te Kitaj die figürliche Malerei gegen die damals bestimmend­e abstrakte Kunst verteidige­n.

Drei farbenfroh­e Gemälde von Kitaj zieren nun auch Menschlich­es, Allzumensc­hliches. Zwei Drittel sind Leihgaben, darunter eine Porträtstu­die Lucian Freuds von seinem Freund und Rivalen Francis Bacon. Auf diese Leihgabe aus einer Privatsamm­lung ist Tate-Britain-Direktor Alex Farqu- harson besonders stolz, war das Werk doch seit 1965 nicht mehr öffentlich zu sehen.

Bacon (1909-92) und Freud (1922-2011) bilden zwar das Herz der Ausstellun­g, geben aber den Blick frei auf viele andere Talente und deren Beziehungs­netzwerk. „Wie Künstler das Leben in all seiner Intensität gemalt haben“, soll gezeigt werden. Dazu zählen viele Aktbilder, darunter so berühmte wie Lucian Freuds Schlaf vorm Löwenteppi­ch, mit der stark übergewich­tigen Sue Tilley als Modell. Dass die damals beim Arbeitsamt Beschäftig­te während einer Sitzung einschlief, kann kaum verwundern: Freud war berühmt dafür, seine Modelle über Wochen hinweg mit Beschlag zu belegen.

Bacon hingegen ließ sich häufig von Fotografie­n seines Freundes John Deakin (1912-72) inspirie- ren. Der Raum Isolierte Figuren versammelt sieben seiner Gemälde aus den ersten zehn Nachkriegs­jahren. Warum daneben aber eine der berühmten Frauen von Venedig von Alberto Giacometti (1901-66) steht, einem Schweizer, der nie in London arbeitete, bleibt rätselhaft. Immerhin hat die Beschaffun­g der einzigen Skulptur in der ganzen Ausstellun­g wenig gekostet, gehört sie doch zur Tate-Sammlung.

Die Kritik reagierte unterschie­dlich auf das Potpourri. „Brillant und unerschroc­ken“, nennt Jonathan Jones die Ausstellun­g im Guardian, eine „berauschen­de Bestandsau­fnahme“, lobt Observer- Kritiker Tim Adams. Hingegen zeigte sich Waldemar Januszczak in der Sunday Times „enttäuscht wie selten“: Trotz manch großartige­r Werke handele die Schau „von gar nichts“.

Londoner Silberrück­en

Tatsächlic­h wird nicht recht deutlich, worin die Gemeinsamk­eit der ausgestell­ten Künstler besteht. Zwei der Räume verdeutlic­hen immerhin sehr schön den Einfluss zweier Künstler, die an Hochschule­n lehrten. William Coldstream (1908-87) prägte Euan Uglow (1932-2000) ebenso wie Freud. David Bomberg (18901957) lehrte Dorothy Mead, Leon Kossoff und Frank Auerbach den Umgang mit dem Zeichensti­ft.

Wie Kossoff und Auerbach ihre Stadt sehen, spiegelt sich in einer Reihe von Gemälden en plein air, ein festliches Menü für LondonBege­isterte. Ganz zum Schluss versuchen die Kuratoren noch, ein Gegengewic­ht zur Kunst der alten weißen Männer zu schaffen: Malerinnen wie Jenny Saville, geboren 1970, oder Lynette YiadomBoak­ye, 1977, setzen die figürliche Tradition fort. Bis 27. August

 ??  ?? Nicht nur alte weiße Männer malen figürlich, auch jüngere Frauen sind in der Londoner Ausstellun­g „All Too Human“zu sehen, etwa Jenny Saville mit ihrem 2003 entstanden­en Gemälde „Reverse“.
Nicht nur alte weiße Männer malen figürlich, auch jüngere Frauen sind in der Londoner Ausstellun­g „All Too Human“zu sehen, etwa Jenny Saville mit ihrem 2003 entstanden­en Gemälde „Reverse“.

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