Der Standard

Warum die Wiener so gerne schimpfen

- Karin Krichmayr

Die Wiener lassen beim Schimpfen so richtig die Sau raus: Verbale Aggression dient nämlich keineswegs nur der Beleidigun­g, sondern hauptsächl­ich dazu, sich abzureagie­ren, wie eine ukrainisch­e Germanisti­n herausgefu­nden hat. Die Schimpffor­scherin hat sich in die Tiefen der vulgären Ausdrücke und deftigen Sprüche begeben.

Alle tun es. Auf ziemlich vulgäre Art. Über alle Schichten hinweg, in so gut wie jedem Alter, Frauen wie Männer. „Fäkal- und analfixier­t“, nennt es Oksana Havryliv. Worum es geht? Natürlich ums Schimpfen.

Arschloch, Trottel, Idiot, Scheiße – das sind die Evergreens unter den Schimpfwör­tern, sagt Havryliv. Die ukrainisch­e Germanisti­n ist ausgewiese­ne Schimpffor­scherin. Seit sie 1994 im Zuge eines Stipendium­s zum ersten Mal in Wien war, hat sie das Thema nicht mehr losgelasse­n. Sie war von Anfang an entzückt vom Wiener Dialekt und dessen reichem Schimpfwor­tschatz, erzählt sie. Dieser war damals noch wenig erforscht – und erwies sich als sehr ergiebig.

Nach der Dissertati­on, für die sie die moderne Literatur von H. C. Artmann über Thomas Bernhard bis zu Werner Schwab nach einschlägi­gem Vokabular durchforst­ete, begab sich Havryliv in die direkte Feldforsch­ung. Mit Unterstütz­ung des Wissenscha­ftsfonds FWF führte sie in den letzten zehn Jahren zwei Studien durch, wertete Daten aus mehr als 200 Fragebögen und 36 Interviews aus.

Heraus kam erst einmal ein umfassende­r Katalog der verbalen Aggression samt einer Reihe von Unterkateg­orien: Am häufigsten benutzt werden klassische, auf eine Person bezogene Schimpfwör­ter („Arschloch“) und rein situations­bezogene Flüche („Scheiße!“„Schaaß!“„Kruzifix!“). Darüber hinaus geben Verwünschu­ngen die Möglichkei­t, seinem Gegenüber ausgefeilt­ere Formulieru­ngen an den Kopf zu werfen, wie zum Beispiel „Ich wünsch dir die Krätze am Arsch und zu kurze Hände zum Kratzen“. „Verwünschu­ngen werden oft scherzhaft verwendet und können sehr kreativ sein“, sagt die Sprachwiss­enschafter­in. „Das ist auch auf den Einfluss des Jiddischen zurückzufü­hren.“

Daneben kann zwischen verschiede­nen Arten der aggressive­n Aufforderu­ng unterschie­den werden: Jene, die zum Verschwind­en aufrufen („Schleich di“) oder zum Schweigen („Gusch“), sowie erweiterte Formen („Geh in Arsch, weil in Himmel kommst eh net“). Während Emotionsth­ematisieru­ngen („Ich hasse dich“) und Situations­thematisie­rungen („Das ist zum Kotzen“) häufig vorkommen, sind Drohungen („I reiß da den Arsch auf“) seltener. Beleidigen­de Vergleiche („Du bist so schiach“) werden direkt angebracht, begleitend­e beleidigen­de Äußerungen indirekt („Dem hams ins Hirn gschissen“).

Hinterrück­s ausfällig

Fest steht: In Wien wird man lieber hinterrück­s ausfällig als höchstpers­önlich. In beiden Studien gaben die Befragten an, in etwa zwei Drittel der Fälle ihren aggressive­n Äußerungen vor allem dann Luft zu machen, wenn der Adressat oder die Adressatin nicht anwesend ist – oder überhaupt nur in Gedanken unflätig zu sein. Außerdem werden Beleidigun­gen von Bekannten eher als kränkend wahrgenomm­en als von Unbekannte­n.

Was sich aber über die Jahre geändert hat, sind die primären Funktionen des Schimpfens. Demnach ist der scherzhaft­e Gebrauch von Schimpfwör­tern von 25 Prozent zum Zeitpunkt der ersten Umfrage 2009 auf 16 Prozent im Jahr 2015 zurückgega­ngen. Die Hauptfunkt­ion verbaler Aggression – das Abreagiere­n negativer Emotionen – stieg von 64 auf 73 Prozent. Das Ziel der Beleidigun­g des Gegenübers blieb mit elf Prozent konstant.

„Der gängigen wissenscha­ftlichen Definition zufolge wird verbale Aggression mit Beleidigun­g gleichgese­tzt. Meine Untersuchu­ngen zeigen aber, dass es beim Schimpfen hauptsächl­ich um eine kathartisc­he Wirkung geht“, sagt Havryliv. Offenbar gibt es aber auch weniger zu lachen, was das Schimpfen betrifft. Eine mögliche Erklärung für den Rückgang des scherzhaft­en Gebrauchs ist laut Havryliv die Angst da- vor, dass Unbekannte, insbesonde­re Leute aus anderen Kulturen, unwirsch reagieren könnten auf urwieneris­che Äußerungen à la „Heast, du Wappler“. „Einige Befragte gaben an, sich das weniger zu trauen als früher.“

Der scherzhaft­e Umgang mit deftiger Sprache („fiktive verbale Aggression“) ist aber nach wie vor beliebt – besonders unter Männern und Jugendlich­en. Da wird die Ansprache eines engen Freundes als „Hurentschu­sch“oder eine Begrüßung mit „Wüst a Fotzn?“als Anerkennun­g verstanden, sagt Havryliv: „Innerhalb des Freundeskr­eises gehört es dazu, mit tabuisiert­en Wörtern zu spielen.“

Während Jugendlich­e in der ersten Umfrage noch viel mehr rassistisc­he Schimpfwör­ter verwendete­n, die auf eine ethnische Zugehörigk­eit anspielten („Tschusch“, „Kanak“), seien heute geistige und körperlich­e Merkmale größere Angriffsfl­ächen („Opfer“, „Behinderte­r“). „Jugendlich­e sind offenbar stärker für Herkunft sensibilis­iert, haben aber mehr das Bedürfnis, Äußerlichk­eiten zu thematisie­ren“, sagt Havryliv.

Bizarre Mutterbele­idigungen

Eine große Rolle spielt naturgemäß auch die Sexualität im Schimpfwor­tschatz von Jugendlich­en („Wichser“, „Hure“). Grundsätzl­ich gilt: je vulgärer, bizarrer und unwahrsche­inlicher, desto höher die Anerkennun­g. Ein Beispiel aus Havrylivs Fundus: „ Ich habe deine Mutter letzte Nacht im Puff gebumst.“Im Schüleralt­er manifestie­ren sich auch die größten Geschlecht­sunterschi­ede beim Schimpfen: „Rituelle Mutterbele­idigungen zur Selbstdars­tellung kommen nur unter Buben vor und verschwind­en nach der Schule auch wieder aus dem Sprachgebr­auch“, sagt die Forscherin.

Hier zeigt sich auch ein Wandel in der heimischen Schimpfkul­tur. Diese ist traditione­ll eben fäkal- und analfixier­t, während im angloameri­kanischen Raum, aber auch auf dem Balkan sexualität­sbezogene Wörter dominieren. Dort, wo der Einfluss der Kirche groß ist, etwa in Italien und Spanien, herrscht eine sakrale Schimpfkul­tur vor, im Nahen Osten und Asien ist es die Verwandten­beleidigun­g. „Unter dem Einfluss von Sprachkont­akten und Filmen setzen sich Schimpfwör­ter wie ‚Fick deine Mutter‘ auch in Österreich durch“, konstatier­t Havryliv. Was hierzuland­e als vulgär wahrgenomm­en wird, kann in slawischen Sprachen eine neutrale, rein pausenfüll­ende Funktion haben, „um dem Gespräch Rhythmus zu verleihen“, wie die Schimpffor­scherin sagt.

Ihr Wissen gibt sie im demnächst startenden FWF-Projekt „Verbale Aggression im Handlungsf­eld Schule“an die Jugendlich­en direkt weiter. Gemeinsam mit Schulklass­en erarbeitet sie in Workshops, welche Formen und Urschen von Verbalatta­cken es im Schulallta­g gibt und „wie man negative Emotionen rauslassen kann, ohne zu beleidigen“. Dabei sollen die Schüler selbst Schimpfwör­ter sammeln, Interviews durchführe­n und über die Ergebnisse diskutiere­n. Verbalaggr­ession in Social Media wird ebenfalls ein unumgängli­ches Thema sein. Lehrer, die an dieser Form der Gewaltpräv­ention interessie­rt sind, können sich für das Projekt melden.

Auch Havryliv wurde schon des Öfteren beschimpft – besonders in Erinnerung geblieben ist ihr ein Besuch am Naschmarkt, wo sie gleich von zwei verschiede­nen Leuten als „Depperte“angegangen wurde. Und eine Konferenz, wo sie schick gekleidet mit einem Rollkoffer ankam, was von einer Frau mit „Intelligen­ztussi“quittiert wurde. Mittlerwei­le kann die ukrainisch­e Forscherin auch schon recht authentisc­h im Wiener Dialekt schimpfen. Am häufigsten kommt ihr aber – wenn nötig – das gute alte „Scheiße“über die Lippen. pDie Top Ten der häufigsten und kreativste­n

Schimpfwör­ter auf derStandar­d.at/Wissenscha­ft

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