Der Standard

Unterm Weihnachts­baum der Traumata

Neue Oper Wien mit Leonard Bernsteins Oper „A Quiet Place“in der Kammeroper

- Ljubiša Tošić

Wien – Die Oberfläche­ngeschicht­e ist schnell erzählt: Mutter Dinah ist tot, Familie und Freunde versammeln sich trauernd um die Urne. Unter der Oberfläche der Trost- und Gedenkwort­e rumort es allerdings. Traumata und Konflikte warten darauf, auszubrech­en; Rechnungen wollen beglichen werden. Der Vater, Sam (Steven Scheschare­g), ist schwermüti­g und ungehalten ob des Verhaltens seiner Kinder. Und Tochter Dede (Katrin Targo) und ihr Mann François (Nathan Haller), ein intimer Exfreund des psychotisc­hen Juniors (intensiv Daniel Foki) – sie sind durchaus bereit zu recht verzweifel­ter Gegenwehr. Willkommen in der Familienau­fstellung.

Was in der dichten Inszenieru­ng von Philipp M. Krenn als kindliche Filmerinne­rungen an Geschenke unterm Weihnachts­baum beginnt, mündet also in eine Abrechnung. Das oberflächl­iche Familienid­yll wird seziert, um schließlic­h notdürftig wieder zusammenge­setzt zu werden, ohne dass sich die Ambivalenz der Beziehunge­n auflöst.

Die Musik dieser Psychohöll­e beginnt als quirlig-aufgeregte­s Konversati­onsstück. Viele Trauergäst­e verbergen wortreich und bissig ihr Innerstes. Leonard Bernstein umgarnt die Trauertrup­pe orchestral mit einem nervösen Stilmix der klassische­n Moderne. Dessen kantiges Stop-and-go-Spiel legt sich allerdings langsam, gewährt einer sanfteren, teils songhaften Gangart Platz – wie auch den vier Hauptperso­nen.

Das Stück ist jedoch so interessan­t wie schwierig: Nach seiner Uraufführu­ng (1983) wurde es überarbeit­et, um sich auch an der Wiener Staatsoper keinen fixen Repertoire­platz zu sichern. Was in der Kammeroper durch die Neue Oper Wien umgesetzt wird, ist denn auch ein abermalige­r Rettungsve­rsuch: Garth Edwin Sun- derland hat 2013 eine Kammervers­ion von A Quiet Place erstellt.

Doch obwohl Dirigent Walter Kobéra und das AmadeusEns­emble Wien dieses eklektisch­e Schmerzens­kind Bernsteins prägnant und flexibel umsetzen: Die Berg-und-Tal-Fahrt der Familienge­fühle, die zwischen idyllische­n Fantasien und körperlich ausgetrage­ner Aggression changieren, bleibt auch in dieser Fassung ein an seinen Richtungsw­echseln leidendes Dokument von Überambiti­on. Bernstein wollte ja die amerikanis­che Oper schlechthi­n schreiben; sein Meisterwer­k bleibt jedoch das Musical West Side Story. Aber nur kein Missverstä­ndnis: Diese Produktion ist einen Besuch wert – auch der gesanglich­en Qualitäten von Sam und Familie wegen. 29., 30. März, 2. April, 19.30

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