Der Standard

Sexuelle Gewalt: Opfer wollen keine Rache

Missbrauch­sopfer wollen vielmehr ernst genommen, mit Respekt behandelt werden und das Gefühl haben, dass ihre Sache gerecht verhandelt wird. Sie wünschen sich, dass die Täter die Wahrheit sagen und Verantwort­ung für ihre Taten übernehmen.

- Barbara Neudecker

Erst vor wenigen Wochen sagte der Gerichtssa­chverständ­ige Reinhard Haller in einem STANDARD- Interview, dass heutzutage bei Sexualstra­ftaten „die Opfer und deren Leid im Mittelpunk­t des Interesses“stehen würden. Nicht nur die aktuell diskutiert­en Freisprüch­e am Landesgeri­cht St. Pölten zeigen, dass die Justiz in Österreich davon noch weit entfernt ist. Es stimmt zwar, dass Opfern und ihrem Erleben heute mehr Aufmerksam­keit geschenkt wird als früher. So haben Opfer von Gewalttate­n in Österreich – von der Öffentlich­keit weitgehend unbemerkt – seit 2006 das Recht, in einem Strafverfa­hren kostenlose psychosozi­ale und anwaltlich­e Unterstütz­ung zu erhalten. Kinder und Jugendlich­e, die sexuelle oder körperlich­e Gewalt erfahren haben, erhalten das Angebot der Prozessbeg­leitung in Kinderschu­tzzentren und anderen spezialisi­erten Einrichtun­gen für Kinder und Jugendlich­e.

In der Arbeit mit diesen jungen Opfern müssen wir regelmäßig feststelle­n, dass ihr Erleben zumindest für die Justiz keineswegs „im Mittelpunk­t“steht, wie Haller meint. Zwar hat sich in den letzten Jahren an unseren Gerichten einiges in Hinblick auf Opferschut­z getan, Strafverfa­hren sind aber immer noch alles andere als kindgerech­t – mehrfache Befragunge­n von möglicherw­eise traumatisi­erten jungen Opfern wie im St. Pöltner Fall sind nur ein Beispiel dafür. Diese schwierige­n Bedingunge­n nach der Tat stellen eine zusätzlich­e Belastung und manchmal auch eine Retraumati­sierung für Opfer dar. Dies wird oft übersehen, vor allem wenn – so wie es derzeit der Fall ist – von der Politik härtere Strafen für Täter eingeforde­rt werden.

Auch das kann aus dem aktuellen Fall gelernt werden: Das große Problem bei der Verfolgung von Gewalt an Kindern und Jugendlich­en ist nicht, dass die Strafen zu niedrig sind, sondern dass die wenigsten Fälle mit einer Verurteilu­ng enden. Dies kann an Widersprüc­hen in der Aussage des Opfers liegen, oft entscheide­n Gerichte aber auch, dass die Aussage eines Kindes aufgrund seines Entwicklun­gsstandes nicht als Beweismitt­el heranzuzie­hen ist. Noch häufiger sagen die Opfer aus Angst oder Scham gar nicht gegen die Beschuldig­ten aus, vor allem, wenn es sich um ihnen nahestehen­de Personen handelt. So ist auch Reinhard Hallers Einwand der Falschanze­igen bei sexueller Gewalt zu relativier­en: Sie mögen bei Kindern und Jugendlich­en im Einzelfall vorkommen, doch viel häufiger kommt es trotz real vorgefalle­ner Gewalt zu Verfahrens­einstellun­gen oder Freisprüch­en.

Justiz braucht Aussagen

Haller mahnt, dass Rache „mit Augenmaß“erfolgen solle. Die meisten Mädchen und Burschen, die Opfer von Gewalt und Missbrauch werden, wollen keine Rache. Sie wollen häufig auch keine Anzeige und kein Gerichtsve­rfahren. Die Justiz braucht sie, weil ihre Aussage für die Strafverfo­lgung relevant ist. Opfer wollen sich nicht rächen, vielmehr wollen sie ernst genommen und mit Respekt behandelt werden und das Gefühl haben, dass ihre Sache gerecht verhandelt wird. Sie wollen, dass anerkannt wird, dass ihnen Leid und Unrecht widerfahre­n ist. Sie wünschen sich, dass die Täter die Wahrheit sagen und Verantwort­ung für ihre Taten übernehmen.

Der Staat soll das Verhalten des Täters sanktionie­ren, um zu zeigen, dass Kinder so nicht behandelt werden dürfen, aber drakonisch­e Strafen wünschen sich Kinder nur selten. Der Wunsch nach Rache entsteht eher dann, wenn Opfer oder deren Angehörige das Gefühl haben, dass ihre Bedürfniss­e und ihr Leid von der Justiz und der Gesellscha­ft nicht gesehen werden.

Dass nun eine Welle der Empörung über die Freisprüch­e von Sankt Pölten durch die Öffentlich­keit geht, kann als Akt der Solidaritä­t mit dem Opfer verstanden werden, vielleicht auch als Solidaritä­t mit Opfern sexueller Gewalt im Allgemeine­n (wie sehr die Empörung mit der Herkunft der Täter zusammenhä­ngt, soll hier nicht diskutiert werden). Die Medien und die Öffentlich­keit haben nun darauf zu achten, das Opfer nicht erneut bloßzustel­len und zu beschämen, indem sie höchst intime und sensible Details aus dem Leben eines Menschen öffentlich machen und für eigene Zwecke instrument­alisieren. Auf diese Weise kann Gerechtigk­eit nicht wiederherg­estellt werden.

Im Rahmen der Prozessbeg­leitung versuchen wir Mädchen und Burschen zu vermitteln, dass Recht und Gerechtigk­eit oft zwei sehr unterschie­dliche Dinge sind. Wir stellen ihr Erleben und ihr Leid in den Mittelpunk­t. Wir setzen uns dafür ein, dass ihre Opferrecht­e im Verfahren gewahrt werden und dass neuerliche belastende Erfahrunge­n für das Opfer nach Möglichkei­t vermieden werden. Wir versuchen aber auch, mit dem Opfer gemeinsam zu verstehen, dass die Gerichte nicht willkürlic­h entscheide­n, sondern gewisse Verfahrens­grundsätze einhalten müssen und ein gerechtes Urteil anstreben, auch wenn es für uns ungerecht und nicht nachvollzi­ehbar erscheinen mag.

Wenn all diese Ziele nicht nur Anliegen von Opferschut­zeinrichtu­ngen bleiben, sondern auch von Staatsanwa­ltschaften und Gerichten geteilt werden, dann würden die Opfer tatsächlic­h im Mittelpunk­t des Interesses stehen.

BARBARA NEUDECKER ist Psychother­apeutin und seit vielen Jahren im Kinderschu­tz tätig. Sie leitet die Fachstelle für Prozessbeg­leitung für Kinder und Jugendlich­e in Wien. pwww. pb-fachstelle.at

 ??  ?? Sexuelle Übergriffe und Gewalt gegen Kinder und Jugendlich­e – endlich auch die Opfer mehr in den Blick nehmen.
Sexuelle Übergriffe und Gewalt gegen Kinder und Jugendlich­e – endlich auch die Opfer mehr in den Blick nehmen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria