Kalte Herzen – Schach in neoliberalen Zeiten, das Kandidatenturnier in Berlin (I): der Ort und seine Inszenierung. Von ruf & ehn
Wie es schon immer war: Schach ist Zerr- und Wunschspiegel der Gesellschaft. Im Mittelalter war es Zeichen für das Aufkommen einer courtoisen Welt, im Barock ist Schach das Spiel der Aufklärung, ein Lied der Vernunft, das jeder lernen konnte, unabhängig von Geburt und Stand, wenn er sich nur seines eigenen Verstandes bedient. In der Kultur der Bürgerlichkeit, als sich das Spiel den neuen Raum des Cafés erobert und in allen europäischen Metropolen Schachvereine gegründet wurden, erzählt das Spiel von Egalität, vom Triumph der bürgerlichen Geselligkeit über das aristokratische Modell des Spiels.
Diese Spiegelfunktion des Spiels zeigt sich nicht zuletzt durch die Orte, an denen gespielt wird. Heute wird, so macht es der Spielort des Kandidatenturniers in Berlin und seine Bezeichnung deutlich, im Zeichen des Neoliberalismus gespielt. Als Location wählten die Veranstalter das „Kühlhaus“, einen verlassenen Industriebau in Kreuzberg. Derlei Bauten ziehen erfolgshungrige Start-ups wie datengierige Internet-Konzerne weltweit wie das sprichwörtliche Licht die Motten an. Das Kühlhaus vermittelt das Ambiente brachialer Härte. Einst wurde in eleganten Salons, später in bürgerlichen Cafés mit reichlich Dekor und Polstermöbeln gespielt, nun wird in einem Lagerraum im urbanen Nirgendwo malocht. Vielen Besuchern erschien das düstere Entree zum wichtigsten Turnier des Jahres – ermittelt wurde der Herausforderer von Weltmeister Magnus Carlsen – als Eingang zu einer „Geisterbahn“, Garri Kasparow bezeichnet den Spielort als „Colosseum“: Die Spieler sitzen im Erdgeschoß an ihren Brettern, separiert in Einzelkoben, die Zuschauer blicken von den Balustraden in den Stockwerken oberhalb auf das Geschehen. Der Kiebitz sieht ganz im Wortsinn von oben auf die Großmeister herab, ob sie denn auch „ihre Leistung bringen“und wie ihre „Performance“ist.
Der Turnierort ist freilich nur eine groteske Karikatur der politischen Verhältnisse, Architektur eines organisatorischen Desasters. Die neoliberale Inszenierung, die sich ansonsten durch glatte saubere Oberflächen wie in den Büros am Potsdamer Platz auszeichnet, präsentiert sich im Liliput des Schachspiels als verwahrloste Berliner Disco, wie Christoph Pragua, ehemaliger Hörfunkjournalist des WDR, in einer brillanten Reportage über das Kandidatenturnier feststellte: „Die leere Klopapierrolle eiert von links nach rechts, bleibt schließ- lich in einer Lache liegen. Sie war gestern schon da, oder? Genau wie die merkwürdigen Flecken auf dem Boden? Der Berg von zerknüllten Papierhandtüchern im Vorraum ist jedenfalls nicht weniger geworden über Nacht. Heute ist die Klinke der Kabinentür abgefallen.“Bezeichnend für die Politik der Veranstalter war die Trennung von gemeinem Schachvolk und VIPs, die Ungleichheit wurde durch das Tragen verschiedenfarbiger Armbänder signalisiert: „Ständig wird man kontrolliert“, so Pragua, „dass man nicht verbotenes Terrain betritt.“Und zwar von „ernst blickenden jungen Männern, die auf jedem Treppenabsatz wachen und eine beeindruckende ‚street credibility‘ ausstrahlen.“Einst soll es beim Schach so etwas wie eine Gemeinschaft gegeben haben.
Am Ende gewann Fabiano Caruana (USA) nach hartem Kampf und qualifizierte sich damit für das WM-Match gegen Carlsen im November in London; das schönste Schach spielte aber Wladimir Kramnik in Berlin – frei von Erwartungen und ökonomischem Erfolgsdruck. Hier seine Glanzpartie gegen Levon Aronian aus der dritten Runde.
Aronian – Kramnik Berlin 2018
Eine schung.
erste
Überra- Ein derzeit beliebtes Konzept.
Eine kleine Unaufmerksamkeit mit gewaltigen Folgen.
Schwarz geht mit Brachialgewalt am Königsflügel vor. Obwohl dieser Zug aus dem Fernschach bekannt ist und Kramnik ihn schon vor Jahren analysiert hatte, konnte er ihn hier erstmals anwenden. Gegen g5-g4. Die unangenehmste Fortsetzung.
Besser 9.Sc3 g5 10.Sxe5. Die Lawine Bärenstark. Ein verzweifelter Versuch, der sofort widerlegt wird. Jetzt hat Schwarz unwiderstehlichen Angriff.
Die eleganteste Lösung. Oder 25.exd5/Txd3 De4+ mit Matt in wenigen Zügen.
Auch 26.Txd3 Dxe4 27.Te3 f2+ 28.Txe4+ Lxe4 wird matt.
Trotz dieser Fesselung gibt es kein Entrinnen. Und 0– 1 wegen 28.Kh2 g1D+ 29.Kxg1 f2+ 30.Kh1 Th3+ 31.Kg2 f1D matt. Die Berliner Unsterbliche! Sd2 2. beliebigL/ Sb1!1. 2768: