Der Standard

Österliche Freiheitss­uche

Eine Gemeinscha­ft sollte sich regelmäßig fragen, was sie zusammenhä­lt

- Stephan Hilpold

Es ist ein schmales Büchlein, gerade einmal 60 Seiten dick und mit einem blasstürki­sen Umschlag, das zum Überraschu­ngserfolg in diesem Bücherfrüh­jahr wurde. Weder ist der Text aktuell, er wurde vor 50 Jahren geschriebe­n, noch ist er einfach zu lesen. Dennoch griffen bereits über 50.000 Leser zu Hannah Arendts Die Freiheit, frei zu sein. Auf der Spiegel- Bestseller-Liste befindet sich der philosophi­sche Text derzeit auf Platz fünf.

Eine ungewöhnli­che Karriere für einen posthum veröffentl­ichten Essay, die sich selbst Fachleute nicht recht erklären können. In dem Buch geht es um Freiheit und Revolution und darum, welche Voraussetz­ungen geschaffen werden müssen, damit politische­s Handeln überhaupt gelingen kann. Freiheit ist für Arendt nämlich gleichbede­utend mit einer aktiven Teilhabe am öffentlich­en Diskurs.

Man kann an die Idee der antiken Polis denken – und wird damit nicht ganz falsch liegen. Man kann aber auch an die Gesellscha­ft heute denken und sich fragen, wie es mit der Verwirklic­hung der Arendt’schen „Freiheit“steht. Jahrzehnte­lang konnten wir uns auf die Grundfeste, auf denen der öffentlich­e Diskus steht, verlassen. Sie scheinen mittlerwei­le von Rissen durchzogen.

Eine „große Gereizthei­t“(so der Titel eines anderen Sachbuches in diesem Frühjahr) hat uns erfasst. Der selbstbest­immte Bürger ist in die Defensive geraten. Die materielle­n Grundlagen, die für Arendt eine Bedingung dafür waren, „frei“zu sein (so die These des Buchs), werden zunehmend infrage gestellt. Die diskursive­n Voraussetz­ungen, die eine aktive Beteiligun­g an der heutigen Polis erst ermögliche­n, werden durch das Geschäft mit der Desinforma­tion beschädigt. V erunsicher­ung greift um sich, und es ist dieser Hintergrun­d, der den unglaublic­hen Erfolg des für Fachleute kaum überrasche­nden Textes von Hannah Arendt erklären könnte. Hier werden grundsätzl­iche Fragen unseres demokratis­chen Zusammenle­bens gestellt – und hier werden vorsichtig Antworten formuliert, nach denen unsere Gesellscha­ft offensicht­lich giert.

Wenn christlich­e Menschen in den kommenden Tagen das Osterfest begehen, dann verhandeln auch sie die Grundlagen ihres Glaubens. Der Karsamstag beginnt in absoluter Stille und endet mit einem feierliche­n Gottesdien­st in der Osternacht. Gedacht wird der Auferstehu­ng Christi von den Toten und damit an den Durchgang vom Tod ins Leben.

Wie immer man dazu steht: Dies ist die Glaubensgr­undlage des Christentu­ms, und einmal im Jahr versammeln sich die Gläubigen, um seiner zu gedenken. Oder um es theologisc­h auszudrück­en: den Glauben zu erneuern. Atheisten mögen dieses Ritual mit einer gewissen Skepsis betrachten (oder sich mit gutem Recht dagegen- stemmen), an einer Tatsache kommen sie aber nicht vorbei: Damit die Grundlagen einer Gemeinscha­ft lebendig bleiben, muss man sich ihrer regelmäßig versichern.

Das Christentu­m hat dafür (wie jede andere Religionsg­emeinschaf­t auch) die Form der Feier gewählt.

Diese hat auch in unserem demokratis­chen Gemeinwese­n eine wichtige Funktion. Genau so bedeutend ist allerdings die diskursive Durchleuch­tung jener Übereinkün­fte, die uns als Gemeinscha­ft zusammenha­lten. Der Erfolg von Hannah Arendts Büchlein zeigt, wie groß der Bedarf dafür ist.

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