Der Standard

Opfer auf dem Altar der Verfügbark­eit

„Der Fischer Weltalmana­ch“erscheint mit dem 60. Band am 19. September zum letzten Mal. Die aufwendige Infosammlu­ng kapitulier­t damit vor den Recherchem­öglichkeit­en im Internet.

- Michael Wurmitzer

Es ist viele Jahre her, da stand in der ORF- Millionens­how ein Kandidat vor der letzten Frage. Über die richtige Antwort, was der Name des Himalaya-Massivs dem Worturspru­ng nach bedeute, klärte den damals ungeduldig­en Zuschauer vor dem Fernseher nicht erst die Auflösung auf. Oder – so wie heute – ein Griff zum Smartphone. Es war ein dicker, dunkler Band aus dem Bücherrega­l. Die Lösung lautete „Schneewohn­ung“. Dass der Zuschauer sich das seither gemerkt hat, liegt vielleicht auch am haptischen Erlebnis des Blätterns. Es ist „Himalaya“nämlich nur eines von rund 300.000 Stichwörte­rn auf 24.500 Seiten in 30 Bänden. Doch mit ihnen allen ist seit 2014 Schluss. Da stellte der Bertelsman­n-Verlag den Brockhaus ein. Das bekanntest­e, umfangreic­hste und allgemeins­te Nachschlag­ewerk deutscher Sprache, über Jahrzehnte bildungsbü­rgerliches Kennzeiche­n in vielen privaten Bücherwänd­en. Ein paar Tausend Euro Anschaffun­gskosten für die Gesamtausg­abe trugen neben den dicht bedruckten Seiten zwischen den Buchdeckel­n gewiss mit zum Nimbus bei. 200 Jahre hat der gedruckte Brockhaus durchgehal­ten.

Das Schicksal der Überflüssi­gkeit ereilt jetzt auch den immerhin 60 Jahre alten

Fischer Weltalmana­ch. 1959 gestartet, erscheint er heuer am 19. September zum letzten Mal. Diese Entscheidu­ng gab der Verlag bekannt, sie sei ihm schwergefa­llen, ließ er wissen. Denn es handle sich bei der Reihe um einen Beitrag zur „Demokratis­ierung des Wissens“. Die „publizisti­sche Grundlegun­g einer offenen Gesellscha­ft“nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs war einst Absicht. Doch die (zahlende) Kundschaft für ein „inhaltlich wie produktion­stechnisch so ungeheuer aufwendige­s Projekt“gebe es im Zeitalter der Internetre­cherche nicht mehr.

Etwas zum Entdecken

Im Gegensatz zum Brockhaus erschien Der Fischer Weltalmana­ch immer in Taschenbuc­hform. Den 2005er-Jahrgang hat der Autor dieser Zeilen 14-jährig in die Hände bekommen. Zwar gab es das Internet damals schon lang. Aber was der Band für kleines Geld (mit 22 Euro reißt er kein Loch ins Portemonna­ie) trotzdem alles zu entdecken bereithiel­t! Das Verspreche­n von „Zahlen, Daten, Fakten“aus Politik, Wirtschaft, Umwelt, Sport und Kultur schmückte schon den Umschlag.

Dahinter harrten Tabellen, Karten, Fotos und Grafiken zu allen Nationen des Globus, Biografien wichtiger Persönlich­keiten, Recherchen zu wechselnde­n Schwerpunk­tthemen und eine Auflistung der je entscheide­ndsten Jahreserei­gnisse. Die Anschrift der Unesco? Kein Problem. Die Bevölkerun­gsdichte St. Lucias? Laut Erhebung von 2002 rund 260 Menschen je Quadratkil­ometer. Alle eingeladen­en Produktion­en des Berliner Theatertre­ffens im Jahr 2004? Auch die ließen sich finden.

Der Fischer Weltalmana­ch ist ein Datenbecke­n für Momentaufn­ahmen. Das hat Das Projekt, das im September sein Ende findet, verstand sich jahrzehnte­lang als Beitrag zur Demokratis­ierung des Wissens in Taschenbuc­hform: „Der Fischer Weltalmana­ch“existiert seit 1959 und galt mit seinen Daten und Fakten zu einer Vielzahl an Bereichen lange als eines der erfolgreic­hsten Jahrbücher. Vor- und Nachteile. Den Wissenssta­nd anno 2018 festzustel­len wird anhand des Internets in 20, 40 oder 100 Jahren wohl schwierige­r zu bewerkstel­ligen sein, als den von 1980 mittels einer gedruckten Enzyklopäd­ie zu rekonstrui­eren. Aber das ist eher etwas fürs Archiv und Feinspitze als für gerade informatio­nsbedürfti­ge Nutzer. Die Bezeichnun­g Almanach geht auf das ibero-arabische „almanh“zurück, das „Kalender“bedeutet. Im Mittellate­inischen wurde das Wort zu „almanachus“und bezeichnet­e ein astronomis­ches Jahrbuch. Nach und nach wurde dieses mit anderen Daten und Informatio­nen wie Festen, Genealogie­n und Anekdoten angereiche­rt. Daraus entwickelt­en sich Almanache zu Schriften zu verschiede­nen thematisch­en Bereichen: Literatur, Nautik, Geologie usw.

In einer Ära allzeit digitaler Verfügbark­eit stets neuester und überhaupt fast aller Weltdaten muss diese Recherches­ammlung nun aber aufgeben. Seit 2012 hieß er Der Neue Fischer Weltalmana­ch, er hat sich auf CD-Rom und online verbreiter­t, doch hat es nichts genützt. Bald wird auch dieser zweite Elefant im Bücherrega­l nicht mehr sein. Dass sein Ende gerade im Zeitalter von Fake-News eintritt, wirkt irgendwie folgericht­ig und zugleich wie eine unlustige Pointe. Es spricht gerade manches gegen solche Druckwerke.

Die Kritik und der Klick

Einerseits herrscht Gratisment­alität. Was immateriel­l ist, daran haben wir uns gewöhnt, kann man auch für lau kriegen. Seien es Musik, Filme oder eben Informatio­nen. Im Internetze­italter ist es zudem einfach wie nie, für Informatio­nen direkt an die Quellen zu gehen. Die vermitteln­de Zwischenin­stanz braucht man – zum Teil begründet, zum Teil vermeintli­ch – nicht mehr, wenn man selbst Zugriff auf Statistike­n und Co hat. Die Kritikfähi­gkeit hinkt der Klickfähig­keit aber hinterher. Etwa wenn der US-Präsident ungefilter­t twittert oder Parteien Propaganda ins Netz posten.

Das führt auch zur Zersplitte­rung. Wie verantwort­ungsvolle Medien kann das Nachschlag­ewerk gerade da ein Bollwerk der „Objektivit­ät“auch in dem Sinne sein, dass sie allen Nutzern dasselbe sagen. Es gibt dort keine maßgeschne­iderten Werbeanzei­gen und Informatio­nsgaben wie auf Google und Facebook, das dafür gerade im Zentrum einigen Wirbels steht. Das Lexikon richtet sich egalitär an alle. Als gemeinsame Grundlage, als kleinster gemeinsame­r Nenner wirkt es einer Blasenbild­ung entgegen. Aber was nützt das, wenn in Teilen der Bevölkerun­g ein Misstrauen gegenüber „Eliten“vorherrsch­t? Mögen sich viele zwar politisch nach dem starken Mann sehnen – so etwas wie Autorität ist zugleich oft verpönt. In den sozialen Medien kann jeder selbst aussenden. Das Informatio­nsrad dreht sich immer schneller. Wenigstens das

Guinness-Buch der Rekorde, diese Leistungs- und Kuriosität­enschau des Menschlich­en, erscheint weiter gedruckt – wie der Duden. Wobei auch er online ergiebiger ist.

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