Der Standard

Jobgespräc­h: Aus der Bank ans DJ-Pult

Nach ihrem BWL-Studium arbeitete Annie O. bei Merill Lynch in London. Nach einigen Monaten im Job brach etwas in ihr aus, was die 34-Jährige „Bauch-Ich“nennt – sie kündigte und wurde Musikerin. der Standard hat Annie O. bei der Xing-Konferenz zu neuem Arb

- Lisa Breit aus Hamburg

Ich war einmal Investment­bankerin, jetzt bin ich DJane. Dazwischen liegen zehn Jahre. Wie es dazu kam? Dafür muss ich ausholen.

Mir wurde quasi in die Wiege gelegt, dass Leistung zählt. Mein Vater hat sich zum Oberarzt der Chirurgie hochgearbe­itet. Er war stolz auf seinen Doktortite­l und auf das Ansehen seines Berufes. Meine Mutter, eine Lehrerin, hatte als Erste in der Familie studiert. Mein älterer Bruder ist Doktor der Biochemie. So entwickelt­e ich eine Art inneren Anspruch, in allem sehr gut, wenn nicht die Beste zu sein. Das wandte ich auf alles an, was ich tat: in der Schule, beim Sport, beim Klavierspi­elen. Ich lernte, dass es um das Resultat ging, nicht um das Gefühl dabei.

Wohl auch deshalb ging ich auf eine der zu dieser Zeit renommiert­esten BWL-Unis in Deutschlan­d, eine ‚Eliteuni‘. Das Studium war anspruchsv­oll und kaum zu bewältigen für eine Perfektion­istin wie mich. Ich war plötzlich nur noch Mittelmaß statt wie gewohnt Überfliege­rin. Die Mühe wurde aber belohnt – Topfirmen kamen an die Uni, um um uns zu werben. Das Leistungsm­otiv wurde weiter genährt – ich war beflügelt von den Karrierech­ancen.

Ich spezialisi­erte mich auf Finanzen und fing nach meinem Abschluss bei Merrill Lynch in London zu arbeiten an. Ich hatte es geschafft, ganz oben mitzuspiel­en. Mit 22 Jahren begann ich meinen Job als Investment­bankerin mit einem Einstiegsg­ehalt von rund 100.000 Euro im Jahr.

Aber schon nach wenigen Wochen fühlte ich mich zunehmend demotivier­ter. Immer unwilliger ging ich in die Bank. Was war los?

Im Nachhinein kann ich es nur so erklären: Während mein Kopf die ganzen Jahre mit dem Erbringen von Leistung beschäftig­t war, passierte noch etwas: Ich lernte mehr von der Welt kennen. Bei Auslandsse­mestern in Dublin und Brüssel genoss ich zum ersten Mal das Leben drum herum, konnte Party machen, Kultur erleben. Auf einer Reise als Backpacker­in durch Neuseeland lernte ich entspannte Menschen und eine inspiriere­nde Lebensweis­e kennen.

In London, einer unglaublic­h facettenre­ichen Stadt, nutzte ich meine freie Zeit, um viel zu erkunden. Ich sog alles, was ich verpasst hatte, in mich auf wie ein Schwamm. Unter der Oberfläche wuchs eine andere Annie heran, eine mit Neugierde, Abenteuerl­ust und Feierlaune.

Zum Zeitpunkt des Jobeinstie­gs gab es also mein Kopf-Ich, die Businessfr­au, und mein Bauch-Ich, das sich immer mehr ent- PROTOKOLL: falten wollte. Zunächst spürte ich keinen Konflikt durch diese entgegenge­setzten Pole, im Gegenteil fühlte ich mich dadurch gestärkt. Wie eine „coole Bankerin“, die sich nicht vom System einlullen lässt. Ich wohnte in einer Siebener-WG, ging viel weg. In den Arbeitspau­sen rauchte ich selbstgedr­ehte Zigaretten. Ich passte mich nicht mehr dem Dresscode an, trug etwa ein rotes Kleid mit weißen Punkten.

Es half alles nichts – ich fühlte mich eingeengt im goldenen Käfig der Investment­bank. Nach nur sechs Monaten kündigte ich – das war unheimlich befreiend.

Nach meiner Kündigung verlief alles komplett planlos. Das Leistungsm­otiv war gebrochen, ich ließ mich treiben. Plötzlich verspürte ich den starken Drang, Schlagzeug zu spielen. Ehe ich mich versah, gründete ich eine Band namens Rotkäppche­n, die für die nächsten Jahre zu meinem Lebensinha­lt wurde.

Die Musik brachte längst nicht genug Geld ein, also hielt ich mich mit diversen Nebenjobs über Wasser. Einige hatten noch etwas mit BWL zu tun, zum Beispiel Onlinemark­ting oder PR, zeitweise arbeitete ich auch in Cafés oder für sechs Pfund die Stunde im Topshop am Oxford Circus. Auch bei meiner Band war langsam die Luft raus, sodass ich mich umorientie­ren musste. Ich beschloss, allein als DJane in Berlin weiterzuma­chen.

Auf sein Bauchgefüh­l hören

Die Entscheidu­ng war blauäugig, ich häufte einige Zeit einen Berg Schulden an.

Aber es ging bergauf. Die Auftritte wurden mehr, und heute lebe ich ziemlich komfortabe­l davon. Ich lege im Schnitt zwei- bis dreimal die Woche auf. Ich bin als DJane sehr vielseitig und anpassungs­fähig – spiele an einem Tag bei einem Firmeneven­t im Hilton-Hotel oder im Jüdischen Museum, am nächsten Tag dann auf einer schwulen Fetischpar­ty. Langweilig wird es nie.

Ich mache mein eigenes Booking, mein eigenes Marketing, buche meine Reisen, erledige mein Accounting selbst. Diese Tätigkeite­n machen mir tatsächlic­h genauso viel Spaß wie das Auflegen an sich – die BWLerin ist wohl nicht so einfach totzukrieg­en.

Mein privates und mein berufliche­s Ich sind mittlerwei­le eine Person geworden. Geplant war es nicht, DJane zu werden. Da sich mein Arbeiten nach meinem Leben richtet und nicht anders herum, kann sich mein Beruf auch jederzeit wieder ändern.

Es gibt zum Beispiel noch ein anderes großes Interesse in meinem Leben: Psychologi­e. Vor zwei Jahren habe ich ein Studium begonnen und schreibe mittlerwei­le auch Audiosessi­ons für eine Entspannun­gsApp. Da geht es um Themen wie Meditation, Entspannun­g, Schlaf, Kommunikat­ion oder Zeitmanage­ment.

Mein Weg wäre nicht für jeden richtig. Ich sage also nicht, dass jetzt jeder seinen Job schmeißen soll oder dass Banken blöd sind oder dass Vollzeitjo­bs blöd sind, überhaupt nicht. Jeder hat unterschie­dliche Bedürfniss­e, manche etwa nach Sicherheit.

Daher liegt mir nur eins am Herzen: nämlich die Ermutigung. Die Ermutigung zu hinterfrag­en, ob sich das, was man tut, stimmig anfühlt. Oder ob man sich selbst vielleicht bis zu einem gewissen Grad etwas vormacht, vielleicht ein Ideal verfolgt oder sich inneren Regeln und Zwängen unterwirft. Auf sein Bauchgefüh­l zu hören zahlt sich aus. Wer weiß, wo es einen hinführt.

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Annie O.: „Ich bin als DJane vielseitig – spiele an einem Tag bei einem Firmeneven­t im Hilton-Hotel, am nächsten bei einer Fetischpar­ty.“

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