Ein Brite liebt Österreichs Fußball
Seit fast fünf Jahren sieht sich der Engländer Tim Armitage jedes Spiel der österreichischen Bundesliga an. Was für manche nach mühsamer Pflicht klingt, ist für den Analytiker „zu einem Traumjob geworden“.
Wien/London – „Jedes Bundesligaspiel, jedes Testspiel, jedes Länderspiel. Wenn es einen Stream gibt, schaue ich“, sagt Tim Armitage. 25 Jahre alt, Engländer, die Deutschkenntnisse gehen trotz täglichen Übens noch in Richtung „ick sprecke Deutsch“. Aber: Tim Armitage lebt den österreichischen Fußball wie kein zweiter.
Armitage ist der Österreich-Beauftragte der Fußballanalysefirma Football Radar. Hierzulande hat er sich via Twitter einen Namen gemacht, als @FRfussballTim ist er ein Fixpunkt der Community. Der Brite verfolgt Vorbereitungs- und Pflichtspiele von Altach bis Mattersburg, sei der Stream auch noch so wacklig und der Gegner noch so obskur. „Manchmal ist es einfach Arbeit, du kannst nicht alles genießen. Aber ich will kein Spiel verpassen – vielleicht ist es genau jenes, in dem ein Jungstar seinen Durchbruch feiert.“
Der Analytiker schaut von London aus jede Partie und verarbeitet es im System von Football Radar. Details müssen geheim bleiben, kurz gesagt: Er quantifiziert das Spiel. Als Liga-Analytiker muss Armitage aber auch taktische Tendenzen der Coaches und die Aktionen individueller Spieler beachten.
Einstiegsdroge Tore
Man ist versucht zu fragen: Warum Österreich? Wie geht das gut? Armitage stellt seine „süchtige Persönlichkeit“voran und erklärt: „Ich kann mit generell niedrigem Niveau umgehen, wenn ich Tore sehe. Als ich befördert wurde und begann, die Liga zu verfolgen, dachte ich mir: ‚Wow, es fallen hier eine Menge Tore‘ – und nach und nach rutschte ich immer tiefer hinein.“Seine Arbeit bei Football Radar gehe aber über Österreich hinaus.
Seit Oktober 2013 ist der Bartträger mit der rot-weiß-roten Fußballszene quasi verheiratet, das macht ihn zu einem ausgezeichneten Historiker der jüngsten Vergangenheit. Das beste Team seiner Ära? Individuell Salzburg 2013/14, den Trainer eingerechnet, die aktuelle Bullen-Truppe. Das beste Spiel? Salzburg vs. Rapid, 19. Juli 2014, 6:1, Kevin Kampls Ronaldo-Jubel. „Man muss ein Team im perfekten Flow einfach schätzen.“Unterschätzte Spieler? Raphael Holzhauser, der nicht so defensivschwach sei, wie viele denken. Und Stefan Schwab – „wenn er fit ist, der beste zentrale Mittelfeldspieler in Österreich“.
Am Anfang sei es schwierig gewesen, die Spieler in einer unbekannten Liga zu erkennen und kennenzulernen. Erst nach drei Jahren vertraute Armitage seinen Urteilen über die Profis, manche davon hat er quasi persönlich auf ihrem Karriereweg begleitet. Beispielsweise Xaver Schlager: Armitage erinnert sich, wie er unter Adi Hütter gegen Grödig sein Bundes- liga-Debüt feierte, als Salzburg bereits als Meister feststand. Dafür muss der Engländer nicht googeln. Sein Detailwissen bezeugt die tausenden Stunden, die er mit Österreichs Fußball verbracht hat – dank regelmäßiger Besuche auch innerhalb der Staatsgrenzen. Kurzzeitig schaute er 2015 auch jedes Spiel der Ersten Liga, aber: „Es hat mich umgebracht, wie lange das dauerte.“
So bleiben derzeit etwa neun, zehn Stunden Fernsehfußball pro Woche. In Länderspielpausen hat Armitage die Arbeitszeiten eines klassischen Bürojobs, an Bundesliga-Wochenenden gehe es „eher von zehn bis zehn“. Der Fußballfanatiker hat auch das österreichische Nationalteam lieben gelernt. „Als die Euro passierte, war ich am Boden zerstört. Ich habe es richtig persönlich genommen, es war deprimierend.“Würde England gegen Österreich spielen? „Es wäre sehr schwierig.“
Das ÖFB-Nationalteam kennt er in- und auswendig, ein Akteur fehlte dem Fachmann im jüngsten Kader: Lask-Stürmer Thomas Goiginger. „Er spielt derzeit exzellent. Selbstsicher am Ball, einer der besten Dribbler der Liga“, sagt Armita- ge. „Ich hätte ihn zumindest gern auf Abruf gesehen.“Bei der U21 fiel die Einberufung von Mattersburgs Julius Ertlthaler positiv auf.
Die Zukunft des Nationalteams und des hiesigen Ballesterns allgemein sieht Armitage rosig, und von der österreichischen AmEnde-kommt-das-Scheitern-Fußballmentalität wurde er noch nicht angesteckt. Beweisstück A: „Ich war sicher, dass Salzburg das Rückspiel gegen Dortmund nicht verliert.“Beweisstück B: „Es sind so viele gute junge Spieler in der Liga und auch im Ausland. Es ist eine richtig tolle Zeit, die Mentalität sollte anders sein.“
Der in Middlesbrough geborene Engländer würde die Liga „niemals wechseln“. Nur ein Kollege bei Football Radar hat mehr LigaDienstjahre auf dem Buckel, in seiner sechsten Bundesliga-Saison will Armitage einen Podcast starten. „Wenn man immer das Gleiche tut, wird es langweilig.“