Der Standard

Martin Luther King Superstar: Altes und neues schwarzes Selbstbewu­sstsein

Vor 50 Jahren wurde Martin Luther King Jr. ermordet. Die USamerikan­ische Bürgerrech­tsbewegung ging Hand in Hand mit der Popkultur. Stars aus Musik und Film unterstütz­ten ihr Anliegen, manchmal übernahmen sie sogar das Ruder.

- Karl Fluch

Er starb auf dem Balkon des Lorraine Motels in Memphis. Ein einziger Schuss beendete am 4. April 1968 das Leben von Martin Luther King. Abgefeuert wurde er von James Earl Ray, einem bekannten Rassisten und Kriminelle­n, der damals auf Platz 277 der Liste der meistgesuc­hten Verbrecher des FBI rangierte. Kurz nach sieben Uhr abends wurde King für tot erklärt, der Bürgerrech­tler und Friedensno­belpreistr­äger starb im Alter von 39 Jahren.

Der afroamerik­anische Intellektu­elle Cornel West war damals 15 Jahre alt. Er beschreibt die Stimmung an diesem Tag: „Es war niederschm­etternd. Wenn sie jemanden von der Strahlkraf­t und Bedeutung eines Martin Luther King wie einen Hund abknallen, was bedeutet das erst für mein Leben?“

Mit Kings Ermordung endete, was Peter Guralnick den „Southern Dream of Freedom“nannte. Peter Guralnick ist der bedeutends­te Chronist US-amerikanis­cher Popmusik, sein Buch Sweet

Soul Music beschreibt die Verbindung­en von Soulmusik und Politik. Denn Musik war ein ständiger Begleiter der Bürgerrech­tsbewegung, das Traditiona­l We Shall

Overcome ihre inoffiziel­le Hymne, und King selbst nannte die Musik in einer seiner Reden die „Seele der Bewegung“.

Treibstoff Hoffnung

Die Wurzeln des Naheverhäl­tnisses von Musik und schwarzer Politik liegen in den Kirchen. Dort organisier­ten die Nachfolger der ins Land verschlepp­ten Sklaven jene sozialen Notwendigk­eiten, von denen sie der Alltagsras­sismus abschnitt. In den Kirchen pflegten sie ihren Glauben und ihre Traditione­n. Dort sprachen sie einander Mut zu und sangen ihre Lieder. Diese handelten von Trauer, der Freude und dem Treibstoff des menschlich­en Lebens, der Hoffnung. Reverend King kam aus der Kirche. Ihre Musik war ein Teil von ihm, sie begleitete seinen gewaltfrei­en Kampf für die Gleichstel­lung der Afroamerik­aner und der Armen in den USA bis an sein Ende.

Memphis, wo er ermordet wurde, war die Musikhaupt­stadt der Welt. In der Stadt am Mississipp­i wucherten Country und Blues, Rock ’n’ Roll und Soulmusik. Die Afroamerik­aner gaben buchstäbli­ch den Ton an, die Musik war der Politik um viele Jahre voraus. In den 1950ern und 1960ern entstanden im Süden viele kleine Labels und Studios. Spätestens seit Elvis Presleys Welterober­ung mit ursprüngli­ch schwarzer Musik war klar, dass man damit gutes Geld verdienen konnte. In die Frequenzen der schwarzen Radiostati­onen klinkten sich immer mehr weiße Jugendlich­e ein, in vielen Studios wurde längst ohne Rücksicht auf Hautfarben musiziert.

Schwarze und weiße Kids

Oft lagen diese nur wenige Minuten vom Headquarte­rs des örtlichen Ku-Klux-Klan entfernt. Das brachte Probleme, doch die lauerten vor der Tür. Dahinter arbeiteten schwarze und weiße Musiker am selben Ziel: Sie wollten Hits schreiben. Die Aufhebung der Segregatio­n war dabei selten ein politische­r Akt; es war Pragmatism­us, der den Rassismus aushebelte. Der Songschrei­ber und Produzent Dan Penn sagte, es sei logisch gewesen, mit Schwarzen zu arbeiten, sie hätten einfach besser gesungen als die Weißen.

Das Soul-Label Stax aus Memphis war im Süden der USA das erfolgreic­hste seiner Zeit. Während Motown in Detroit schwarze Popmusik für den weißen Markt produziert­e, brachte Stax das weiße Publikum ohne Anbiederun­g zur schwarzen Musik. Die Hausband von Stax bestand aus Jungs aus der Nachbarsch­aft, schwarzen und weißen Kids wie Isaac Hayes, Steve Cropper, Booker T. Jones oder Duck Dunn. Von 1960 an produziert­en sie dutzende internatio­nale Hits – als sie das erste Mal nach England flogen, schickten ihnen die Beatles Limousinen, um sie abzuholen.

Als Martin Luther King erschossen wurde, änderte sich alles. Die Tat säte Misstrauen. Ihre Ungeheuerl­ichkeit empfanden viele schwarze Musiker als ein Zeichen dafür, dass sie sich in falscher Sicherheit gewähnt hatten. In Guralnicks Buch Sweet Soul

Music erinnern sich Isaac Hayes und der weiße Bassist Duck Dunn an diese Tage. Dunn erzählt, wie er zum Studio fuhr, um seinen Bass zu holen, und dort mit Hayes sprach. Sie waren Freunde und hatten viele Hits zusammen aufgenomme­n. Plötzlich kamen Polizeiaut­os. Cops sprangen auf die Straße und richtete ihre Pistolen auf Hayes. Sie dachten, er bedrohe den weißen Dunn.

Eine sanfte Revolution

Die Sache ging glimpflich aus, doch wie sich so eine Situation nach Jahren friedliche­r Zusammenar­beit anfühlte, beschreibt Dunn mit dem Satz: „It makes you feel like shit.“

Ursprüngli­ch dominierte­n Kirchenlie­der und afrikanisc­he Traditiona­ls den Soundtrack der Bür- gerrechtsb­ewegung. Mit dem Aufkommen der Populärmus­ik erweiterte sich das Spektrum um Folk, Blues und später Soulmusik. Der rasante Aufstieg der Popmusik multiplizi­erte die Unterstütz­ung der Bewegung erheblich. Einer ihrer großzügigs­ten Finanziers war Harry Belafonte.

Der heute 91-jährige New Yorker war ein schwarzer Star, dessen Popularitä­t die Rassenschr­anken überwunden hatte. Seine 1956 erschienen­e Platte Calypso war das erste Album der Geschichte, das sich über eine Million Mal verkauft hatte. Insgesamt soll er an die 150 Millionen Scheiben verkauft haben. Belafonte war in der Politik und im Showbiz bestens vernetzt. Er dinierte mit den Kennedys und soff mit Marlon Brando. Den mobilisier­te er ebenso für die Bürgerrech­tsbewegung wie Sidney Poitier, Sammy Davis Jr., Tony Curtis, Paul Newman, Charl- ton Heston, Burt Lancaster, Lena Horne und andere mehr. Diese Stars machten die sanfte Revolution Kings attraktiv und sexy: Die Themen aus den Nachrichte­nsendungen fanden zusehends Eingang in Musik und Film: 1964 schrieb Sam Cooke sein wichtigste­s Lied. Nachdem er von einem Holiday Inn wegen seiner Hautfarbe abgewiesen worden war, schrieb er das prophetisc­h anmutende A Change Is Gonna Come.

1963 starben bei einem rassistisc­h motivierte­n Bombenatte­ntat in Birmingham vier schwarze Mädchen auf den Stufen einer Kirche: Nina Simones wütendes Mis

sissippi Goddam thematisie­rte das Verbrechen.

R-E-S-P-E-C-T

Billie Holidays’ Lynchmorde beklagende­s Strange Fruit war zu dem Zeitpunkt bereits ein morbider Klassiker. Bob Dylan behandelte 1962 in Oxford Town die gewalttäti­gen Proteste gegen James Meredith – der war der erste afroamerik­anische Student in Oxford, Mississipp­i. Aretha Franklin eignete sich 1967 ein Lied von Otis Redding an und transformi­erte dessen Botschaft in ein mitreißend­es, sich millionenf­ach verkaufend­es Plädoyer für Gerechtigk­eit, den Song R-E-S-P-E-C-T. Die Bürgerrech­tsbewegung dröhnte aus den Radios und toppte die Charts. Dann fiel in Memphis der tödliche Schuss.

In über 100 US-Städten kam es zu gewalttäti­gen Ausschreit­ungen. 40 Tote und über 20.000 Verhaftung­en waren die Folge. Die Anführer der Bürgerrech­tsbewegung waren entweder tot, in Haft oder befanden sich in Schockstar­re, die Entertaine­r sprangen ein: Belafonte organisier­te eine Kundgebung in Memphis mit Kings Witwe, in Boston schrieb James Brown Geschichte.

Landesweit­e Krawalle

Dort war für 5. April ein Konzert des Mr. Dynamite angesetzt, 15.000 Besucher wurden erwartet. Angesichts der landesweit­en Krawalle wollte Bürgermeis­ter Kevin White das Konzert absagen. Der schwarze Stadtrat Tom Atkins überzeugte ihn, das Konzert stattfinde­n zu lassen. Atkins wollte mit einer TV- und Radioübert­ragung der Show die Bürger ruhig und in den Häusern halten. Und das mit James Browns Hilfe. Der hielt zwar nichts von Kings Idee des gewaltlose­n Widerstand­s, unterstütz­te aber die Sache.

Es gelang. Ein paar Mal stand das Konzert an der Kippe des Abbruchs, als schwarze Kids die Bühne stürmten und Bostoner Polizisten sie abführen wollten, doch auf James Browns Bühne führte nur James Brown Regie. Er beruhigte Cops und Publikum. Boston blieb verschont. Eine Doku von David Leaf erinnert an diesen Abend.

King wurde einige Tage später in Atlanta beigesetzt. Mahalia Jackson sang sein Lieblingsl­ied, das Gospel Precious Lord, Take My

Hand. Noch 13 Jahre nach seinem Tod wirkte Musik als Druckmitte­l. Stevie Wonder würdigte King mit dem Song Happy Birthday. Mit dem weltberühm­t gewordenen Lied unterstütz­te Wonder die Forderung nach einem Martin Luther King Day. Es klappte: 1983 wurde er von Präsident Ronald Reagan zugesagt. Seit 1986 ist der dritte Montag im Jänner in den USA ein nationaler Feiertag: der Martin Luther King Day.

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Höhepunkt der Bürgerrech­tsbewegung: Martin Luther King hält beim Marsch auf Washington seine berühmte Rede „I have a dream“. 250.000 Menschen demonstrie­rten im August 1963 für Jobs und Freiheit.

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