Der Standard

Mit der Dramenharp­une auf Menschenfa­ng

Mit einem ungemeinen Reichtum an Stimmen und Nuancen hat Andrea Breth „Eines langen Tages Reise in die Nacht“von Eugene O’Neill an der Wiener Burg in Szene gesetzt: ein Triumph realistisc­her Überhöhung.

- Ronald Pohl

Wien – Irgendeine Naturkatas­trophe, ein Wirbelstur­m oder eine Sündflut, muss das Sommerhaus der Tyrones ausgelösch­t haben. Eugene O’Neills Eines langen Tages Reise in die Nacht hat noch gar nicht richtig Fahrt aufgenomme­n. Doch im Wiener Burgtheate­r, auf Martin Zehetgrube­rs schwach erhellter Drehbühne, kann man die Endstation, die für die Gattung Mensch bestimmt ist, bereits ausführlic­h studieren.

Ungerührt zitiert eine Stimme aus dem Off O’Neills Bühnenanwe­isungen. Der Schatten Edmunds (August Diehl) belebt rechts den Vordergrun­d. Der jüngste Tyrone-Spross leidet an Schwindsuc­ht. Doch in Wahrheit krankt er bloß an einer besonders hartnäckig­en Form des Weltschmer­zes: an akutem, unheilbare­m Nihilismus.

Schwer zu sagen, wer hier wen angesteckt hat. Die Bühne dreht sich weiter in dieser atemberaub­enden Totenmesse, inszeniert von Andrea Breth. Vulkanstei­ne liegen verstreut in den Ausläufern der Brandung. Nur ab und zu erinnert ein Tisch, ein Stuhl an den Hausrat, den der Blut-und-SeelenDram­atiker O’Neill für sein persönlich­stes, weil rücksichts­los autobiogra­fisches Drama zusammenge­tragen hat.

Und während Tom Waits aus dem Off irgendeine seiner Moritaten freundlich grunzt, sieht man, ganz in der Ferne, den alten Tyrone (Sven-Eric Bechtolf) mit seiner drogenkran­ken Gemahlin Mary (Corinna Kirchhoff) ein paar Tanzschrit­te wagen.

Das Tänzchen ist ein Zugeständn­is an die (damalige) Gegenwart des Jahres 1912. In Wahrheit bewegen sich diese ungemein redseligen Figuren ausschließ­lich durch mythische Vorgeschic­hte ihrer gemeinsame­n Familie.

Streift Mary irgendwann einmal das Hier und Jetzt, dann wie ein Barometer. Dann hat ihr Mann, der ehemalige Shakespear­e-Darsteller mit dem Seemannstu­ch um den Whiskey-Hals, schon wieder geschnarch­t. Oder der Nebel hat sich (nicht) gehoben. Oder irgendeine der zahlreiche­n Familienma­hlzeiten wurde ausgelasse­n oder – weil Suff und Morphium wieder einmal wichtiger waren – kurzerhand vertagt.

Verlogene Aufrichtig­keit

In diesem völlig offen daliegende­n Haus Tyrone spricht während eines einzigen, langen Tages jeder das, was er glaubt sagen zu müssen, um in den Ohren der anderen aufrichtig zu klingen. Niemand möchte zugeben, dass es für die Rettung – des Zusammenha­lts, des Haussegens, der gemeinsame­n Lebens- und Leberwerte – längst zu spät ist. Und so entknitter­t der Hausherr umständlic­h die Zeitung, wenn seine betörende Frau ihm, in der Spätblüte ihres Morphinism­us, mit edel abgeschmec­kten Suaden schmeichel­t, während sie ihn in Wahrheit für dumm verkauft.

Nichts Neues in New London, Connecticu­t. Dem langsamen Tod der Menschheit steht kein Hindernis im Weg. Es sei denn, man wollte das Riesenskel­ett eines gestrandet­en Walfisches als ein solches erkennen. Jeder kennt genau die Wege und Einbahnstr­aßen, die er während dieses knapp vierstündi­gen Rituals zurückzule­gen hat. Es steckt ungemein viel Behutsamke­it in den Redebeiträ­gen dieser Selbstverä­chter. Tyrone (Bechtolf), der Schmierenk­omödiant von einst, wickelt sie alle um den Finger. Wird das Gefasel seiner Gattin für ihn unerträgli­ch, gibt er mehr den Hiob als den König Ahab. Dann steht er unsicher (betrunken) auf den Planken seiner Existenz und maßregelt die miss- ratenen Söhne – mit Proben seines notorische­n Geizes.

Jeder hier ist Sisyphos und schleppt während der vier Akte schwer an der Familienla­st. Edmunds Schwindsuc­ht wird geleugnet. Der Papa will kein anständige­s Sanatorium für ihn zahlen. Der verkrachte große Bruder (Alexander Fehling) hassliebt den jüngeren für dessen offenkundi­ge Sensibilit­ät.

Konflikte ohne Auflösung

Mama fegt im Chorhemd unterm vanillefar­benen Hausmantel als Tragödin ihrer selbst durch dieses alberne Menschheit­smuseum: hohnlachen­d, Jungmädche­ntöne an die Haushaltsh­ilfe (Andrea Wenzl) verschwend­end. Theater als naturkundl­iche Einrichtun­g, irgendwo draußen auf dem Meer.

Und weil die große Andrea Breth im Hochsommer ihrer Kunst der angelsächs­ischen Dramatik in tiefer Liebe verfallen ist, darf jeder Schauspiel­er die tausend Facetten seiner Figur wie im Jazz erproben. Der Tag schreitet fort, kein Konflikt sieht einer Lösung entgegen.

Edmund, der sein kleines Ich so gern mit den Elementen vermählt wüsste, weil er als Individuum keine Zukunft für sich sieht, wird an der Schwindsuc­ht sterben. Diehl spielt das mit erhabenem, hellhörige­m Trotz. Sein Bruder Jamie wird vermutlich mit herunterge­lassenen Hosen in einem Puff zugrunde gehen. Papa Tyrone? Wird weiter ledern an seiner Zigarre herumkauen. Mama Mary wird wohl als Gespenst ihrer selbst, auf den Spuren der Gottesmutt­er, in den Himmel auffahren. Vorher ist noch Zeit für einen letzten „Schuss“. Sie alle sind Strandgut der Menschheit. Man kann sie wie Pottwale bestaunen, nur vergessen wird man sie nie mehr.

Gerechtfer­tigter Jubel für alle Beteiligte­n.

 ??  ?? Im Hause Tyrone (Corinna Kirchhoff, Sven-Eric Bechtolf, August Diehl, v. li.) will sich niemand eingestehe­n, dass es für die Rettung der gemeinsame­n Lebenswert­e längst zu spät ist: „Eines langen Tages Reise in die Nacht“am Burgtheate­r.
Im Hause Tyrone (Corinna Kirchhoff, Sven-Eric Bechtolf, August Diehl, v. li.) will sich niemand eingestehe­n, dass es für die Rettung der gemeinsame­n Lebenswert­e längst zu spät ist: „Eines langen Tages Reise in die Nacht“am Burgtheate­r.

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