Der Standard

Populistis­che Leckerli

- Christoph Prantner

Unlängst in der Prager Ostrovní-Straße: Ein Ungar, ein Tscheche, ein Slowake und ein Österreich­er sitzen abends in der Václav-Havel-Bibliothek zusammen, um über 1918 und die Folgen zu diskutiere­n. Es geht um Gewinner und Verlierer in Mitteleuro­pa, um Schuld und Sühne, historisch­e Kontinuitä­ten, den Vielvölker­staat der Habsburger und die Europäisch­e Union. Meist ist es ernst, manchmal aber dann doch vergnüglic­h – vor allem, wenn der Ungar vom exzentrisc­hen Masochismu­s vieler Landsleute berichtet, mit dem diese den „Phantomsch­merz“zelebriert­en, der sie nach dem recht einseitig empfundene­n Verlust „Großungarn­s“nach Kriegsende durch den Trianon-Vertrag befallen hat. Diesen schönen Schmerz würden sie gegen nichts in der Welt eintausche­n, nicht einmal gegen Temesvár oder gleich ganz Siebenbürg­en.

Als die Rede auf den aktuell recht rabiaten Populismus in der Region kommt, zeigt sich eine Bruchlinie: Die Republik Österreich hat – gegründet von großdeutsc­h eingestell­ten Sozialdemo­kraten und verdattert­en, eigentlich monarchist­ischen Christlich-Sozialen; über Bürgerkrie­g, den „Anschluss“, den „Geist der Lagerstraß­e“, den Wiederaufb­au, die Kreisky-Jahre und die Waldheim-Affäre – ihren Weg in die EU und in den Westen gefunden. Manche Entwicklun­gen mögen paradoxen Konstellat­ionen geschuldet sein. Herausgeko­mmen ist am Ende doch eine österreich­ische Identität und Bürgerlich­keit, die sich mit dem Staat an sich identifizi­ert, ohne dafür mit populistis­chen Leckerli der jeweiligen Obrigkeit gefüttert werden zu müssen.

Genau darum beneiden viele mitteleuro­päische Freunde die Österreich­er. Ihre Länder haben eine mindestens so wechselvol­le Geschichte durchlebt. In den Jahrzehnte­n des Kommunismu­s allerdings konnten aus schieren Subjekten der Sowjetmach­t keine Individuen, keine Bürger werden. Der amerikanis­che Politikwis­senschafte­r Mark Lilla meint, dass die Osteuropäe­r 1968 und damit die Phase der Selbstermä­chtigung des Individuum­s ausgelasse­n hätten. Sie seien direkt von Untertanen zu Konsumente­n geworden – oder zu Habenichts­en, die ihrer Oberschich­t beim Konsumiere­n zuschauen dürften, dafür aber mit nationalis­tischen oder jedenfalls Anti-EU-Parolen abgespeist würden.

Die Obrigkeit, sie wird schon recht haben – diese Haltung ist der Grund für die jüngsten Wahlsiege des PusztaCaud­illos Viktor Orbán und von Andrej Babiš, des Berlusconi von der Moldau.

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