Der Standard

Butterful Netta und die biestigen Weiber

Tex Rubinowitz zum Song Contest

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Im STANDARD- Forum postete kürzlich ein User namens The Big Boiler, nachdem er alle 43 Teilnehmer des diesjährig­en Eurovision Song Contest im Schnelldur­chlauf gesehen hatte: „Das ist ja alles GRAU-EN-HAFT!“Solche Pauschalur­teile, die alles unter Generalver­dacht des Schauerlic­hen stellen, was da jedes Jahr im Mai in Europa und ein bisschen darüber hinaus aufgefahre­n wird, sind ja noch ganz erfrischen­d, und man wäre damit ja zufrieden, wenn dann nicht auch noch die dauerbelei­digten Reflexhass­er und notorische­n Besserwiss­er ankämen, als Hüter der wahren musikalisc­hen Werte, die seit 62 Jahren, seit Bestehen dieses Wettbewerb­s, vom kulturelle­n Verfall zu schwadroni­eren die Gelegenhei­t bekommen.

Nur machen sie einen Denkfehler, wie man es von ihnen auch nicht anders erwartet, sie denken, beim ESC ginge es um Musik und sonst nichts, und es gäbe einen ESC, aber den gibt es eben nicht, über sechs Dekaden hat er sich derartig oft verpuppt, aufgesplit­tert, ist mutiert, hat seltsame Blüten und Triebe gebildet, natürlich auch mit grauenhaft­en Resultaten, das gehört ja dazu, damit die andere Seite umso schillernd­er, fasziniere­nder, großartige­r, verblüffen­der sein kann. Die Musik ist ein Teil der ganzen Inszenieru­ng, der andere Teil ist das irisierend­e Happening, das ganze Gebilde, das wohltuend altmodi- sche, letzte Fernsehmöb­el. Fände man das alles genauso toll, wenn man es nicht sähe? Das einzig Konstante dieser fossilen, flamboyant­en Veranstalt­ung ist, dass sie stattfinde­t. Und dass man sie liebt oder hasst, Leidenscha­ftslosigke­it U wird nicht geduldet. nd immer wieder kommt es zu Zäsuren, neue Stile werden ausprobier­t, um den Wettbewerb in eine andere Richtung zu manövriere­n, bei ABBA war das 1974 so, bei Lordi 2006 ebenfalls, und auch letztes Jahr in Kiew, als ein etwas zerrupfter Mann namens Salvador Sobral für Portugal, nun ja, sang, eher sich verrenkend hauchte, und unaufgereg­t und dennoch ernsthaft den favorisier­ten, virilen Italiener abhängte, der bei der spannenden Punkteverg­abe am Ende sichtbar erstarb, Introspekt­ive gewann gegen Partypeopl­e-Hedonismus.

Als dann auch noch hinterher rauskam, dass der Portugiese schwer herzkrank war, machte das Resultat umso märchenhaf­ter, dass nach neunundvie­rzig erfolglose­n Teilnahmen Portugal nun auch einmal siegen durfte, und ein paar Monate später bekam Sobral auch noch ein frisches Herz, und wen das nicht rührt, muss anstelle eines Herzens einen Kühlschran­k haben. Auch das gehört eben zum ESC.

In diesem Jahr gibt es ein Problem, und das ist Netta Barzilai. Netta ist die israelisch­e Teilnehmer­in, die bereits im Vorfeld, bei den Beobachter­n, den Wettbüros, den Supatopche­ckerbunnie­s dermaßen weit vorne liegt, dass es ein Wunder wie im letzten Jahr bräuchte, ihr noch den Sieg zu nehmen. Und das macht den Wettbewerb dieses Jahr eher unüberrasc­hend und vorhersehb­ar. N ettas Siegesform­el ist relativ einfach, sie konfrontie­rt das hauptsächl­ich schwule Publikum mit bekannten Bausteinen, sie hat ein Trotzchari­sma, sie ist stolz, klein und dick, ihr Lied ist ein Konglomera­t aus dem, was biestige Weiber wie Missy Elliot, Beth Ditto und Marija Šerifović, die kämpferisc­hen Siegerin aus Serbien von 2007, gemacht haben, Fruchtflie­ge und Lesbe in einem, Männern nicht unbedingt in freundlich­er Absicht ins Gesicht zu springen, die Haltung ist eine, mit der sich jeder Außenseite­r identifizi­eren kann.

#MeToo ist drin, natürlich, statt „Look at me, I’m a beautiful creature“singt sie „... butterful creature“, das ist alles so prachtvoll vorhersehb­ar, uninnovati­v und altbacken, alles geht durch diesen entsetzlic­h billigen Autotunehä­cksler, und dann kommt der wuchtige Refrain, er fräst sich, ohne Feinde zu machen, ins Ohr und bleibt dort, ihr gackerndes Hühnergetu­e ironisiert Komplettve­rblödungen wie Makarena oder K-Pop à la Gangnam-Style, und das Lied hat bei Youtube jetzt schon 18 Millionen Klicks, mehr als alle anderen Teilnehmer zusammen. Zeilen wie „I’m not your toy, you stupid boy“erinnern natürlich an die großen, selbstbest­immten Schwulendi­ven, wenn sie wie Marlene Dietrich „Männer umschwirr’n mich wie Motten das Licht“und Lesley Gore „You don’t own me“singen, nein, behaupten.

Ich lass mir einfach nicht mehr alles gefallen, und das gefällt natürlich jedem, der sich in welcher Form auch immer unterdrück­t fühlt, ein bisschen hat Nettas Attitüde auch mit Conchita Wursts pathetisch­em Statement von vor vier Jahren zu tun: „We are unstoppabl­e“, auch wenn nicht ganz klar ist, wer diese Wir sind. Barthaare?

Ach ja, und wo bleibt Cesár Sampson, der Teilnehmer aus Österreich, der irgendwann mal im Chor der bulgarisch­en Teilnehmer war? Unstoppbar irgendwo im Mittelfeld der Leidenscha­ftslosigke­it versenkt, dort wo ihn niemand sehen kann, und das ist auch besser so.

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 ??  ?? Mit #MeToo und Makarena-Ironie zum Sieg? Netta Barzilai aus Israel.
Mit #MeToo und Makarena-Ironie zum Sieg? Netta Barzilai aus Israel.
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Foto: Imago Autor, Cartoonist und ESCExperte: Tex Rubinowitz.

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