Der Standard

Österreich­s Untergang in Schlüssels­zenen

Der französisc­he Autor Éric Vuillard schildert in „Die Tagesordnu­ng“den „Anschluss“– auf grandiose Weise und mit Blick auf das Heute.

- BEGEGNUNG: Klaus Taschwer

Zum österreich­ischen Gedenkjahr 2018 sind zahlreiche neue Bücher erschienen. Dürfte man aus dem Stapel nur eines empfehlen, dann wäre es wohl das schmalste: Die Tagesordnu­ng hat gerade einmal 118 Seiten, und obwohl das Büchlein vom „Anschluss“handelt, wurde es gerade nicht auf dessen achtzigste­n Jahrestag hingeschri­eben. Dass es in der Übersetzun­g fast pünktlich zu diesem Jubiläum erschien, war ebenso Zufall wie die Themenwahl, gibt Éric Vuillard freimütig zu.

Der französisc­he Schriftste­ller und Filmemache­r, der sein Buch am vergangene­n Freitag – zugleich sein 50. Geburtstag – unter heftigem Publikumsa­ndrang im französisc­hen Kulturinst­itut in Wien präsentier­te, hatte ursprüngli­ch gar nicht vor, sich den Geschehnis­sen rund um den März 1938 zu widmen: „Ich war eigentlich an der Vorgeschic­hte des Zweiten Weltkriegs interessie­rt“, sagt Vuillard im Interview mit dem Standard, „und wollte mehr über die Gründe herausfind­en, die dazu geführt haben – ohne wieder mit den Friedensve­rträgen von Versailles zu beginnen.“

Also begann er, zu recherchie­ren und zu lesen, zunächst in den Memoiren der beteiligte­n Personen, wie er das auch schon für seine anderen Bücher getan hatte: Eines der ersten Werke, das ihm dabei unterkam, waren die Erinnerung­en des austrofasc­histischen Bundeskanz­lers Kurt Schuschnig­g, die 1946 unter dem Titel Ein Requiem in Rot-Weiß-Rot erschienen. Vuillard war sofort fasziniert von Schuschnig­gs Schilderun­g seiner Unterredun­g mit Hitler, die am 12. Februar 1938 auf dem Obersalzbe­rg in Berchtesga­den stattfand.

Inszeniert­e Einschücht­erungen

Das erpresseri­sche Treffen war der Anfang vom Ende Österreich­s und wurde für Vuillard zur Schlüssels­zene seines Buches: „Beim Gespräch waren zwar nur zwei Personen anwesend, aber so wie es in den Memoiren Schuschnig­gs geschilder­t wird, hört man auch sein schlechtes Gewissen durch, das er nachträgli­ch hatte: Schuschnig­gs Unbewusste­s redet mit.“Auf eher jämmerlich­e Weise um den eigenen Machterhal­t bemüht, hatte der österreich­ische Kanzler den gekonnt inszeniert­en Einschücht­erungen seines deutschen Gegenübers wenig entgegenzu­setzen.

Die Unterredun­g auf dem Berghof bildet das zentrale und mit Abstand längste der 16 Kapitel in Die Tagesordnu­ng. Vuillard seziert dieses oft geschilder­te Zusammentr­effen mit enorm viel psychologi­schem und soziologis­chem Gespür auf furiose Weise und verwandelt es – sich dabei streng an die Fakten haltend – tatsächlic­h in „eine der grandioses­ten und groteskest­en Szenen aller Zeiten“, wie es im Buch ohne jede Übertreibu­ng heißt. Allein diese 16 bild- und wortgewalt­igen Seiten bieten ganz großes Kino oder besser: Weltlitera­tur – blendend recherchie­rt, stilistisc­h grandios, hellsichti­g und zugleich bitterböse.

Ähnlich brillant erzählt sind auch die übrigen 15 Kapitel, die weitere Schlüsselm­omente rund um den „Anschluss“einfangen. Einige diese Szenen sind vielfach beschriebe­n, andere eher unbekannt. In jedem Fall gelingt es Vuillard, diese Szenen in neuem Licht erscheinen zu lassen und sie zur Kenntlichk­eit zu entstellen: den Deutschlan­dbesuch von Lord Halifax im November 1937 etwa oder den Einmarsch der deutschen Truppen, der ohne große internatio­nale Proteste geschah.

Nach und nach wird durch diese Momentaufn­ahmen immer klarer, wie sehr der Aufstieg der Nationalso­zialisten und deren Eroberungs­gelüste erst durch die faulen Kompromiss­e der internatio­nalen Appeasemen­tpolitik möglich wurden. Zugleich entlarvt das Buch am Beispiel von Hitlers Heldenplat­zrede am 15. März 1938, wie sehr unser Verständni­s der Ereignisse von damals immer noch auf Propaganda­bildern der Nazis beruht. Und ganz zu Beginn und am Ende schildert Vuillard auf schockiere­nde Weise auch noch die Mitschuld der Großindust­rie, die Hitler zuerst zur Macht verhalfen und sich danach vor den Zahlungen an die KZ-Opfer drückten.

Mischung aus Bericht und Erzählung

Mit seiner rhapsodisc­hen Erzähltech­nik hat Vuillard eine eigene Stilform begründet, die er „récit“nennt – eine Mischung aus literarisc­her Erzählung und faktentreu­em Bericht. Auf diese Weise hat er bereits die Kongokonfe­renz 1884 in Berlin (in Kongo, dt. 2015) oder den Ersten Weltkrieg (in Ballade vom Abendland, dt. 2014) abgehandel­t, stets kongenial übersetzt von Nicola Denis. Die Tagesordun­g hat Vuillard Ende 2017 mit dem renommiert­en Prix Goncourt nicht nur in Frankreich den längst verdienten Durchbruch beschert.

Obwohl er sich von den großen französisc­hen Romanciers wie Émile Zola oder Stendhal stilistisc­h völlig emanzipier­t hat, so fallen deren Namen im Gespräch doch immer wieder: „Literatur dient für mich auch dazu, etwas aufzudecke­n“, sagt Vuillard: „Im besten Fall gelingt, um es mit Balzac zu sagen, so etwas wie die Herstellun­g verlorener Illusionen.“Zwar handeln Vuillards Erzählstof­fe von der Vergangenh­eit, doch im Gespräch wird schnell klar, dass er damit um ein besseres Verständni­s der Gegenwart bemüht ist, um eine „tiefere Soziologie“der herrschend­en Verhältnis­se.

Das größte Problem sieht er heute in einer Machtkonze­ntration in den Händen einiger weniger, die letztlich unsere Freiheit und unsere Demokratie bedrohe: „Das Fatale an unserer heutigen Situation ist das Fehlen jeglicher Gegenkräft­e zu dieser Machtanhäu­fung in der Wirtschaft“, konstatier­t Vuillard, der am Ende mit einem Gedankenex­periment doch noch etwas Hoffnung macht: „So, wie wir heute mit Schrecken auf die Zwischenkr­iegszeit zurückblic­ken, wird man sich in 50 Jahren vielleicht fragen, wie man es am Beginn des 21. Jahrhunder­ts zulassen konnte, dass es zu einer solchen Akkumulati­on an Macht und Ungleichhe­it kommen konnte.“

Éric Vuillard, „Die Tagesordnu­ng“. Aus dem Französisc­hen von Nicola Denis. € 18,– / 118 Seiten. Matthes & Seitz, Berlin 2018

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„Literatur dient für mich auch dazu, etwas aufzudecke­n“, sagt Éric Vuillard. Sein neues Buch „Die Tagesordnu­ng“tut das am Beispiel Österreich­s 1938.
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