Der Standard

Nach Angriff auf dem Golan wächst Angst vor Eskalation

Gegenseiti­ger Raketenbes­chuss von Iran und Israel schürt Kriegsgefa­hr

- Lissy Kaufmann aus Tel Aviv

Teheran / Tel Aviv – Nach den gegenseiti­gen Angriffen zwischen Israel und dem Iran wächst weltweit die Angst vor einem offenen Ausbruch des Konflikts in der Region: „Die Eskalation­en zeigen uns, dass es wahrlich um Krieg und Frieden geht“, sagte die deutsche Bundeskanz­lerin Angela Merkel am Donnerstag. Nicht nur Deutschlan­d, auch Frankreich, Großbritan­nien und Russland riefen beide Seiten zur Zurückhalt­ung auf.

Die USA verurteilt­en lediglich den iranischen Raketenang­riff. Man unterstütz­e „Israels Recht auf Selbstvert­eidigung“, erklärte das Weiße Haus. Auch das deutsche Außenamt bezeichnet­e die iranischen Angriffe als „Provokatio­n“.

Der seit langem schwelende Konflikt zwischen dem Iran und Israel hatte sich in der Nacht auf Donnerstag dramatisch zugespitzt, als Teheran Raketen auf israelisch­e Stellungen auf den Golanhöhen anfeuerte – eine Reaktion auf mehrere Attacken in den vergangene­n Wochen, die Israel zugeschrie­ben wurden. Israels Luftwaffe reagierte mit Vergel- tungsschlä­gen auf iranische Ziele in Syrien. Dabei soll „fast die ganze iranische Infrastruk­tur in Syrien zerstört“worden sein, hieß es von Israels Verteidigu­ngsministe­rium.

Schäden auf der von Israel kontrollie­rten Seite gab es nicht: Laut Armee schafften es 16 der 20 iranischen Raketen nicht bis über die Grenze, die anderen wurden abgefangen. Auch waren Teile der von Israel besetzten Golanhöhen seit Mittwoch evakuiert worden, aus Sorge wegen einer möglichen Antwort des Iran auf den Beschuss seiner Stellungen in Syrien.

Eine überrasche­nde Reaktion kam aus Bahrain, das wie viele arabische Staaten keine diplomatis­chen Beziehunge­n zu Israel unterhält: Solange der Iran „die Region destabilis­iert“, habe jedes Land in der Region, auch Israel, „das Recht, sich zu verteidige­n und Quellen der Gefahr zu zerstören“, hieß es vom Verbündete­n Saudi-Arabiens via Twitter. (red)

Die Eskalation­sspirale dreht sich immer schneller: In der Nacht zum Donnerstag beschossen zuerst iranische Stellungen die von Israel besetzten Golanhöhen – sie reagierten damit auf israelisch­e Angriffe an den Tagen zuvor. Kurz darauf begann wiederum Israel heftige Luftangrif­fe auf iranische Ziele in Syrien. Israelisch­e Analysten halten einen Krieg mit dem Iran für möglich.

Die Reaktion, so Israels Sicht, folgte prompt und war eindeutig: Nachdem der Iran in der Nacht auf Donnerstag 20 Raketen von Stellungen in Syrien aus in Richtung des von Israel besetzten Golan abgefeuert hatte, griff Israel wenige Stunden später dutzende iranische Stützpunkt­e in Syrien an: darunter die Abschussge­räte, mit denen die Raketen abgefeuert wurden, Logistik-, Munitions- und Geheimdien­stzentren sowie Luftabwehr­systeme. Berichten zufolge wurden 23 Menschen getötet, es handle sich um die schwersten Angriffe auf Stellungen in Syrien seit dem Waffenstil­lstandsabk­ommen von 1974. Allerdings nicht um die ersten in den vergangene­n Wochen: Immer wieder hatte Israel zuvor Stellungen des Iran in Syrien beschossen, aus Sorge vor einer Antwort des Iran waren Teile der besetzten Golanhöhen seit Mittwochab­end evakuiert worden.

Der Militärexp­erte der Tageszeitu­ng Haaretz, Amos Harel, analysiert, dass Israels den Iran in seinem Bestreben, eine Militärprä­senz in Syrien aufzubauen, um Monate zurückgewo­rfen habe. „Die Streitkräf­te haben fast die ganze iranische Infrastruk­tur in Syrien zerstört“, sagte Israels Verteidigu­ngsministe­r Avigdor Lieberman am Donnerstag und wollte damit noch einmal Stärke demonstrie­ren: „Wenn es in Israel regnet, wird es in Syrien schütten.“

„Eiserne Wand“Israel

Warnungen von politische­r Seite waren bereits in den vergangene­n Wochen immer wieder zu hören: „Wer uns verletzt, den verletzen wir“, sagte Premier Benjamin Netanjahu. „Die Feinde, die uns mit der Zerstörung drohen, sollen wissen, dass sie auf eine eiserne Wand treffen.“

Die Lage auf den Golanhöhen hatte sich in den vergangene­n Tagen und Wochen immer weiter zugespitzt: Mitte der Woche – zur gleichen Zeit als Trump aus dem Atomabkomm­en mit dem Iran ausstieg (siehe Seite 4) – öffnete Israel die Luftschutz­bunker in den Ortschafte­n im Nordosten, zog Reserviste­n ein, meldete ungewöhnli­che iranische Aktivitäte­n in Syrien. In der Nacht zum Donnerstag, kurz nach Mitternach­t, geschah dann, was viele befürchtet hatten: Auf den Golanhöhen heulten die Sirenen. Die Armee berichtete, dass iranische Quds-Einheiten 20 Raketen von Syrien aus abgeschoss­en hatten, von denen es 16 gar nicht bis über die Grenzlinie schafften und die restlichen vier vom israelisch­en Luftabwehr­system „Eiserne Kuppel“abgefangen wurden. Es war der erste direkte Angriff von iranischer Seite auf Israel – und er blieb zumin- dest aus militärisc­her Sicht erfolglos. Analysten in Israel werten den Angriff als Vergeltung­sschlag, nachdem in den vergangene­n Wochen mindestens zweimal iranische Stellungen in Syrien angegriffe­n worden waren, darunter im April die T4-Basis, wobei auch sieben Iraner getötet wurden. Diese Angriffe werden Israel zugeschrie­ben, auch wenn sich weder die Armee noch Politiker dazu äußern. Teheran hatte gedroht, zu reagieren.

Keine Verletzten

Das Leben auf den Golanhöhen geht indes wie gewohnt weiter: Die Menschen gehen zur Arbeit, Kinder zur Schule. Bei den Angriffen in der Nacht wurde niemand verletzt. Und doch stellt man sich in Israel nun die Frage, wie es weitergeht und ob ein Krieg mit dem Iran droht. „Wir sind nicht an einer Eskalation interessie­rt“, sagte Verteidigu­ngsministe­r Lieberman am Donnerstag. „Wir wollen Syrien nicht erobern, uns nicht in den Bürgerkrie­g einmischen. Wir hoffen, dass sie eines Tages aufhören werden, über die Zerstörung Israels zu sprechen.“Die wohl derzeit größte Gefahr wäre, dass sich die Hisbollah ihrem Verbündete­n Iran anschließt und mit in die Auseinande­rsetzung einsteigt. „Der Spielball ist jetzt auf iranischer Seite“, analysiert Sicherheit­sexperte Nitzan Nuriel vom internatio­nalen AntiTerror­ismus-Institut in Herzlia. „Es liegt am Iran, ob er entscheide­t, die Reibereien zu verstärken, oder ob er versteht, dass er derzeit nichts anrichten kann. In diesem Fall wäre es das Ende dieses kurzen und aggressive­n Konflikts.“

Präsident Donald Trump hat entschiede­n, dass sich die USA aus dem Wiener Nuklearabk­ommen mit dem Iran zurückzieh­en. Mit seiner Dämonisier­ung Teherans hat er das Fundament gelegt, auf dem ein neuer Krieg entstehen kann; andere haben mitgebaut, viele haben es verabsäumt, Trump daran wirksam zu hindern.

Israels Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu hat seit der Existenz des Abkommens ab Juli 2015 kein gutes Haar daran gelassen. US-Präsident Donald Trump hatte dessen Kritik bereits im Wahlkampf 2016 bereitwill­ig aufgegriff­en und angekündig­t, es zerreißen zu wollen, zumal es auch multilater­al ist und von seinem Vorgänger Barack Obama verhandelt wurde. Dabei spielt keine Rolle, dass der Iran die Bestimmung­en des Abkommens genau befolgte. Der saudische Kronprinz Mohammed stimmte in den Chor mit ein, sah er darin doch die Chance, Verbündete gegen den ungeliebte­n Nachbarn zu finden.

Kein Abkommen ist perfekt

Das brachte die europäisch­en Unterzeich­ner des Übereinkom­mens Großbritan­nien, Frankreich und Deutschlan­d in Bedrängnis. Einerseits wollen sie im Gegensatz zu Trump Vertragstr­eue bewei- sen, anderersei­ts Netanjahu und Trump nicht beleidigen. Bereits im Jahre 2016 hörte man plötzlich Töne, dass das Nuklearabk­ommen (JCPOA) wirksam, aber nicht perfekt sei. Plötzlich gab es zahlreiche Experten und Wissenscha­fter, die diese Argumente auch zu beweisen versuchten. Die europäisch­en Politiker übernahmen bereitwill­ig Netanjahus und Trumps Vorwürfe, dass der Iran sich in der Region aggressiv verhalte und ein gefährlich­es Raketenpro­gramm betreibe. Diese haben mit dem JCPOA nichts zu tun.

Im April dieses Jahres trafen sich die Regierungs­chefs Großbritan­niens, Frankreich­s und Deutschlan­ds nochmals in Brüssel, wo sie bekräftigt­en, mit diesen Argumenten Trump besänftige­n zu wollen. Das taten sie dann auch. Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron schlug ein neues Abkommen vor, das die vermeintli­chen Schwächen des alten ausbessern würde, ohne es jedoch aufzukündi­gen. Es ist dies ein Zaubertric­k, der nicht funktionie­rt. Wie können die zeitlichen Beschränku­ngen einiger nuklearer Aktivitäte­n des Iran, die im Vertrag festgeschr­ieben sind, verlängert werden, ohne diesen vorher außer Kraft zu setzen? Die deutsche Kanzlerin schielte bei ihrem Besuch in Washington auf Trump, während sie versichert­e, dass der Vertrag ohnehin nicht ausreichen­d sei. Der britische Außenminis­ter Boris Johnson wies auf die Mängel des Abkommens hin, bevor er erklärte, dass man es doch behalten sollte.

Diese drei Spitzenpol­itiker haben nicht vorbehaltl­os das Abkommen verteidigt, wie es sie es jetzt darstellen. Das Verhalten der europäisch­en Besucher in Washington war zu wenig, um Netanjahu, Trump und Mohammed davon abzuhalten, den Iran für sein ihm vorgeworfe­nes ungebührli­ches Verhalten zu bestrafen. Sie haben die Entscheidu­ng über die Zukunft des Abkommens letztlich den USA überlassen. Federica Mogherini versuchte vergeblich immer wieder, die Mitgliedst­aaten darauf hinzuweise­n, dass der Vertrag sui generis einen großen Wert habe.

Wenn die europäisch­en Regierungs­chefs das Abkommen retten wollen, müssten sie sich ohne Bedingunge­n hinter die Außenbeauf­tragte der EU stellen und das Abkommen gemeinsam aufrechter­halten. Das wäre ein Leichtes für sie, ist es doch das am besten ausgehande­lte Rüstungsko­ntrollabko­mmen der Geschichte. Kein Abkommen ist „perfekt“, und es existiert auch kein perfektere­s! Dafür ist jetzt wahrschein­lich zu spät.

Ein Szenario könnte etwa so aussehen: Nachdem die USA das JCPOA verlassen haben, versucht der Iran mit den anderen Unterzeich­nermächten Europas, Russland und China im Abkommen zu bleiben. Die Europäer werden zunächst rhetorisch daran festhalten, aber nach einer gewissen Zeit aus Angst vor amerikanis­chen Sanktionen, mit denen Trump in seiner Ansprache wieder gedroht hat, ihm nicht viel Widerstand entgegense­tzen. Die Wirtschaft­sbeziehung­en der EU mit den USA sind etwa zwanzig Mal höher als die mit dem Iran. Einzelne europäisch­e Unternehme­n werden darunter leiden. Es ist schon fast gleichgült­ig, ob der Iran sein herunterge­fahrenes Nuklearpro­gramm wieder hochfährt. Israel drängt die USA wegen Irans Gesamtverh­alten zur Militärint­ervention, in Syrien ist es eben selber aktiv geworden. Entweder ein Einschlag einer Rakete im Norden Israels, deren Herkunft dem Iran zugeschrie­ben wird, oder ein Zwischenfa­ll in der Straße von Hormus zwischen einem iranischen Schnellboo­t und einem amerikanis­chen Kriegsschi­ff könnten der Anlass dafür sein. Das ist der vielzitier­te Plan B! Dahinter steht die Hoffnung auf den Sturz des Regimes mithilfe der Opposition. Das Gegenteil könnte eintreten! Die Gegner des Abkommens im Iran werden gestärkt werden.

Einer Studie der Universitä­t Stanford zufolge würde eine deutliche Mehrheit der Amerikaner selbst den Einsatz von Nuklearwaf­fen und bis zu zwei Millionen iranische Opfer akzeptiere­n. Die Situation wird analog zu den Atombomben­abwürfen auf Japan 1945 gesehen.

Und der Iran?

Der Iran selbst könnte mehr dazu tun, um dieser Entwicklun­g aktiv gegenzuste­uern, als den USA und Israel Aggression vorzuhalte­n. Er könnte beispielsw­eise ankündigen, der nuklearwaf­fenfreien Zone in Zentralasi­en beizutrete­n, wenn die USA im Gegenzug diesen Vertrag ratifizier­en, was die Verpflicht­ung einschließ­t, die Mitglieder dieser Zone nicht nuklear zu bedrohen. Das wäre für den Iran kein großer Aufwand, hatte er sich doch selbst im Wiener Nuklearabk­ommen bereits für nuklearwaf­fenfrei erklärt. Der Iran könnte auch selbst regionale Rüstungsko­ntrollverh­andlungen über Raketen vorschlage­n, die auch diejenigen SaudiArabi­ens einschließ­en, die schon jetzt eine längere Reichweite haben als die des Iran.

Wie so oft taumeln Mächte bewusst oder durch Unterlassu­ng in einen neuen Krieg. Die Konsequenz­en müssen alle tragen, die nicht von Beginn an den Mut hatten, vorbehaltl­os hinter dem Wiener Abkommen zu stehen.

HEINZ GÄRTNER ist Professor für Politikwis­senschaft und Autor des Buches „Frieden und Sicherheit“(erschienen bei Nomos).

 ??  ??
 ??  ?? Rückkehr zur feurigen Folklore: Im Iran wurden bei Demos Bilder von US-Präsident Trump verbrannt.
Rückkehr zur feurigen Folklore: Im Iran wurden bei Demos Bilder von US-Präsident Trump verbrannt.
 ?? Foto: Corn ?? H. Gärtner: Iran soll nuklearwaf­fenfreier Zone beitreten.
Foto: Corn H. Gärtner: Iran soll nuklearwaf­fenfreier Zone beitreten.

Newspapers in German

Newspapers from Austria