Der Standard

Befreiung von NS-Last

Christian Weißgerber war in seiner frühen Jugend führend in der Neonazisze­ne in Thüringen aktiv. Seit seinem Ausstieg hält er Vorträge, um andere vor der Radikalisi­erung zu bewahren. Zuletzt in Wien.

- Colette M. Schmidt

Christian Weißgerber, in seiner frühen Jugend in der Neonazisze­ne aktiv, über seinen Ausstieg und Radikalisi­erung.

Standard: Sie gerieten mit 15 in die Neonazisze­ne. Was zog Sie an? Weißgerber: Ich bin aus Eisenach in Thüringen, wo ich 1989 als Wendekind geboren wurde. Die Mauer in physischer Art war gefallen, die in den Köpfen nicht so wirklich. Meinem Vater zufolge gab es zwei Menschen: die hart arbeitende­n, solidarisc­hen Ostdeutsch­en und auf der anderen Seite die dummen und hinterhält­igen, uns alles wegnehmen wollenden Westdeutsc­hen. Das konnte später gut ersetzt werden durch andere Feindbilde­r, weil das strukturel­l den antisemiti­schen Erzählunge­n entspricht: die guten Deutschen und die bösen, rachsüchti­gen Juden.

Standard: Wie war Ihre Kindheit? Weißgerber: Ich wuchs mitten im Villenvier­tel von Eisenach auf, aber in einer Bruchbude, die nie renoviert wurde. Ich hatte ziemlich viele Freunde, die Millionärs­kinder waren, da gab es einen ziemlich starken Gegensatz von Arm und Reich. Leute denken, Nazis hatten Probleme daheim. Das stimmte bei mir. Meine Mutter ist weggegange­n, als ich ein Jahr alt war. Mein Vater hat versucht, meine Schwester und mich aufzuziehe­n, kam nicht damit klar, es gab häusliche Gewalt. Wir Kinder mussten den Haushalt machen. Das Ungerechti­gkeitsgefü­hl führte sicher zu einer frühen Politisier­ung bei mir. Ich wuchs in einem Herrschaft­sregime auf, in dem mein Vater jederzeit Zugriff auf meinen Körper hatte.

Standard: War Ihr Vater politisch? Weißgerber: Er machte dauernd alltagsras­sistische Kommentare. Aber er hielt sich für einen ganz normalen Bürger, war sozialdemo­kratisch eingestell­t. Er verurteilt­e es, als ich mich offen dem Nationalso­zialismus zuwandte. Leute wollen Alltagsras­sismus immer von sich wegschiebe­n, da heißt es: Nur die bösen Nazis und Nationalpo­pulisten sind rassistisc­h.

Standard: Was hat Sie in der Pubertät an Neonazis fasziniert? Weißgerber: Der Respekt vor dem radikal Bösen, das anderen Angst einflößte, fasziniert­e mich. Später hatte ich, wie die meisten Rechten, ein sehr ritterlich­es Bild von mir selbst. Zu Hause hieß es, die Nationalso­zialisten waren böse, haben viele Menschen umgebracht und den Krieg angefangen. Aber man war auch schnell bei den Autobahnen, dass nicht alles schlecht war, dass die Nazis die Deutschen nur verführt hätten, Hitler eigentlich dumm war ...

Standard: ... und Österreich­er. Weißgerber: Das kam erschweren­d hinzu. Zumindest wurde in solchen Erzählunge­n ohne Reflexion völlig Irrelevant­es verbunden, um davon abzulenken, wie die Ideologie selber war. Als Jugendlich­er kamen mir diese Nazis jedenfalls mächtig vor, Leute, die man aus Furcht auf Abstand hält. Standard: Wo war Ihr Erstkontak­t? Weißgerber: 2004 kam die Agenda 2010, das neue Arbeits- und Sozialgese­tz, gegen das viele Menschen auf die Straße gingen. Da nahm mich mein Vater mit, weil er mich politisier­en wollte, aber ich fand die etablierte­n Parteien ziemlich langweilig. Nur der Block vorne, schwarz gekleidete Neonazis von der Kameradsch­aft Eisenach, die von allen angefeinde­t wurden, hat mich interessie­rt. Die haben das stoisch und souverän über sich ergehen lassen, bis eine Person mit Megafon sagte: Wir wollen ja auch nur gegen Sozialabba­u demonstrie­ren – und für die Freiheit des deutschen Volkes. Das fand ich viel spannender.

Standard: Das hat Sie überzeugt? Weißgerber: Ich hab mich schon davor über rechte Musik und historisch mit dem Nationalso­zialismus beschäftig­t. Mein Vater sagte immer „Wissen ist Macht“und wusste aus DDR-Zeiten, dass Geschichte immer von den Siegern geschriebe­n wird. Aus meiner jugendlich­en Logik heraus besorgte ich mir dann geschichts­revisionis­tische Literatur. Das war nicht einfach, das gab’s ja nicht in normalen Buchhandlu­ngen. Aber als Jugendlich­er glaubt man, man weiß mehr als der Mainstream, man hat ein Geheimwiss­en. Eine Klassenkam­eradin war mit einem älteren Jungen aus der Szene zusammen. Der hatte ein Auto, was in der Provinz nicht unwichtig ist. Über ihn wurde ich in die Szene eingeführt. Er war mein Mentor. Wir besprachen Bücher, fuhren zu Konzerten.

Standard: Welche Musik haben Sie gehört? Weißgerber: Typischen Rechtsrock, Landser, Stahlgewit­ter, den Liedermach­er Frank Rennicke. Ich selbst kam aus der Punk-, Gothic-, und Metalszene. Es gibt natürlich auch Nazi-Metalbands wie Absurd aus Thüringen. Ich spielte selbst in einer Nazi-Metalband.

Standard: Wir verlief Ihre rechtsextr­eme Karriere weiter? Weißgerber: Ich gründete eine Jugendorga­nisation, denn die meisten in der Szene waren schon Ende 20, Anfang 30, hatten Familie. Aktiv waren nur noch zwei von der NPD, aber die waren mir suspekt, weil sie für mich Bonzen waren. Trotzdem halfen sie mir, eine relativ unabhängig­e Jugendorga­nisation zu gründen.

Standard: Wie sind rechte Gruppen strukturie­rt? Weißgerber: Drei bis vier sind im Führungska­der, zwölf bis 15 kommen zu allen Treffen, und der Mobilisier­ungskreis umfasst bis zu 30 Leute, bei großen Konzerten 100, in Südthüring­en bis zu 250.

Standard: In Eisenach findet auch immer das Wartburgfe­st der Burschensc­haften statt. Weißgerber: 2006 und 2007 war ich auch am Rand des Wartburg- festes, da haben wir auch mit den extrem rechten Burschensc­haftern aus Deutschlan­d zusammen im Brunnenkel­ler Nazilieder gesungen. Da gab es keine Berührungs­ängste.

Standard: Aus Thüringen stammten auch Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe vom NSU. Was haben Sie in Ihrer aktiven Zeit vom NSU mitbekomme­n? Weißgerber: Ralf Wohlleben (mutmaßlich­er Unterstütz­er des NSU, Anm.) war ein guter Freund von mir. Er ist Vater von zwei Kindern, ich hätte ausgerechn­et ihm nicht zugetraut, irgendwas mit den Terroriste­n zu tun zu haben.

Standard: Was sind die häufigsten Gründe für den Ausstieg? Weißgerber: Es gibt viele materielle Gründe. Mir sagen Schüler in struktursc­hwachen Gegenden wie Südthüring­en: „Wenn die NPD ein Straßenfes­t macht, gibt es da eine Gratis-Hüpfburg, natürlich geh ich da mit meinem kleinen Bruder hin.“Anderersei­ts zog sich ein prominente­r Identitäre­r zuletzt zurück, weil er sich in ein Mädchen der Antifa verliebt hat. Was ich beim Verein Exit, mit dessen Hilfe ich ausstieg, mitbekomme­n habe, sind es aber auch oft gerichtlic­he Verurteilu­ngen. Ideologisc­he Überzeugun­gen sind eher selten der Grund. Bei mir war es auch zuerst die Enttäuschu­ng darüber, dass das Reformatio­nsprogramm meiner Gruppe nicht geklappt hat. Ich wurde nicht über Nacht antirassis­tisch und antination­alistisch. Viele meiner Ex-Kameraden gingen einfach zu den Identitäre­n. Deren Entwicklun­g und das neue Image, das sie alter Ideologie verpassen, wurde von den Medien total verschlafe­n.

Standard: Es gibt die Theorie, dass sich Linksextre­me und Rechtsextr­eme am äußeren Rand treffen. Wo sahen Sie die Unterschie­de? Weißgerber: Das Hufeisenbi­ld der Extremiste­ntheorie scheitert eindeutig. Für die Menschen, mit denen ich Kontakt hatte, war ganz klar, dass das Menschenbi­ld nicht zu vereinigen ist. Das rechte Menschenbi­ld nimmt natürliche Unterschie­de an, etwa zwischen Deutschen und Franzosen. Dieses Menschenbi­ld mit seiner Rassentheo­rie basiert auf Ausschluss und Vernichtun­g. Das ist bei den Linken undenkbar. Manche bezeichnen Staliniste­n als Linke, aber ich denke, da gibt es sehr starke Züge zu ersterem Menschenbi­ld.

Man darf nicht unterschät­zen, wie stressig eine ernste Deradikali­sierung ist. Bei vielen führt sie zu Depression­en.

Standard: Und der Elitegedan­ke?

Weißgerber: Ja, deswegen wundert es ja auch wenig, dass bei der AFD, aber auch bei der FPÖ irgendwelc­he Burschensc­hafter, die sich als elitärer Kreis sehen, zum Hauptarbei­terfeld gehören, dass dort für parlamenta­rische Arbeiten angeworben wird. Es beschäftig­en sich leider die wenigsten damit, dass die vermeintli­chen Kritiker des Establishm­ents selbst Elite sind. Aber in Deutschlan­d wählen jene, die früher Arbeiterpa­rteien gewählt haben, eben nicht mehr die SPD, weil ihnen die Hartz 4 gebracht hat. Die Zerstörung der DDR-Wirtschaft wurde außerdem nicht aufgearbei­tet. Vielen, die früher in Ruhe arbeiten konnten und sich eine Wohnung und die Bildung der Kinder leisten konnten, brachte die Privatwirt­schaft Nachteile. Diese Leute werden nicht ernst genommen, über die macht man sich noch lustig.

Standard: Etwa über ihre Postings mit Rechtschre­ibfehlern ...

Weißgerber: Ja. Die Rechtschre­ibung ist aber völlig irrelevant. Denn ein mit Rechtschre­ibfehlern ausgestell­ter Schießbefe­hl ist genauso tödlich wie einer mit vollkommen perfekter Grammatik.

Standard: Wo würden Sie Leute, die nach rechts abdriften, abholen?

Weißgerber: Jeder muss in seinem eigenen Umfeld mit Leuten reden, anstatt sie in irgendwelc­he Talkshows einzuladen. Da müssen auch Probleme mit geflüchtet­en Menschen oder die Ängste von Frauen, die sich in manchen Bezirken unwohl fühlen, angesproch­en werden dürfen.

Standard: Was war im Privaten besonders schwierig beim Ausstieg? Weißgerber: Man darf nicht unterschät­zen, wie stressig eine ernste Deradikali­sierung ist. Vor dem Ausstieg wusste man jeden Morgen beim Aufstehen, wer die Bösen sind. Dann fehlt diese Klarheit. Bei vielen führt das zu Depression­en. Auch den Umgang mit der eigenen Sexualität musste ich neu lernen. Nazis entmenschl­ichen andere. Das kann auch auf zwischenme­nschlicher Ebene zu großen Problemen führen.

Standard: Wo konkret? Weißgerber: Schon mein Vater hat mich nicht in den Arm genommen, wenn ich weinte. Ich nahm dann auch meine Freundin nicht in den Arm, wenn sie weinte. Ich hatte ja nie gelernt, dass das etwas bringt.

CHRISTIAN WEISSGERBE­R, 1989 in Eisenach geboren, war jahrelang in der rechtsradi­kalen Szene aktiv. Er stieg mit 21 aus, studierte Philosophi­e und arbeitet heute als Bildungsre­ferent.

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Weißgerber ist in seinem neuen Leben meist ohne Schuhwerk unterwegs. „Nur im Winter in Berlin ist das nicht so nice“, erzählt er.

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