Der Standard

„Psychische Zeitbomben“

Deportatio­n, Kriegsgräu­el, Punzierung als Untermensc­hen: Tschetsche­nien-Kennerin Susanne Scholl wundert nicht, dass mancher von dort Geflüchtet­e gewalttäti­g wird. Sie sieht die Gründe in der Geschichte des Landes.

- Gerald John

Standard: Geraten Tschetsche­nen wegen einer Gewalttat, wie etwa wegen Mordes an einem siebenjähr­igen Mädchen, in die Schlagzeil­en, denken und posten viele Menschen: Typisch Tschetsche­nen! Hatten Sie auch schon einmal diesen Reflex? Scholl: Ich nicht, aber ich kenne ja auch Land und Leute – und gerade der aktuelle Mord ist schon gar kein Anlass für diesen Reflex. Der mutmaßlich­e Täter war offenbar ein psychisch schwerst gestörter Bursche, wie es ihn auch in einer original österreich­ischen Familie geben kann. Mit dem ethnischen und kulturelle­n Hintergrun­d hat die Tat überhaupt nichts zu tun.

Standard: Die Erfahrunge­n des Burschen, der mit zwei Jahren aus Tschetsche­nien nach Wien kam, können schon eine Rolle spielen. Scholl: Natürlich. Dieser Bub wurde in einen Krieg hineingebo­ren. An seiner Tat gibt es nichts zu relativier­en, aber ich gehe davon aus, dass er ein Trauma mitschlepp­t, und wenn es jenes der Eltern ist. Wer als Kind in Tschetsche­nien war, hat erlebt, wie Maskierte Verwandte verschlepp­ten, Spielkamer­aden von Minen zerfetzt wurden – und während der russischen Bombardeme­nts haben die Großeltern in den Kellern erzählt, wie sie unter Stalin in Viehwaggon­s nach Kasachstan deportiert wurden und nur deshalb den Winter überlebten, weil sie sich in Erdlöchern eingruben. Da ist es kein Wunder, dass tschetsche­nische Familien unter schweren posttrauma­tischen Belastungs­störungen leiden.

Standard: Wenn also tschetsche­nische Jugendgang­s in Massenschl­ägereien involviert sind ... Scholl: ... dann ist das kein Zufall. Die jüngeren Männer verarbeite­n ihre Traumata sehr oft in Gewaltextr­emen. Die Gesellscha­ft kümmert sich um diese Leute ja auch nicht. Bei den wenigen Betreuungs­stellen, die Kriegsüber­lebenden Behandlung anbieten, gibt es Warteliste­n von mehreren Jahren, auch für die Kinder. Wir züchten psychische Zeitbomben heran, wenn wir nicht endlich helfen. Aber deshalb soll man noch lange nicht so tun, als ob alle Tschetsche­nen mit dem Messer im Mund herumrenne­n. Viele fressen alles in sich hinein und versuchen, sich anzupassen. Doch sie merken auch: Es nützt ihnen nichts.

Standard: Inwiefern? Scholl: Sie bleiben Tschetsche­nen. Solange in ihrem Pass der Geburtsort Grosny steht, behandelt man sie als potenziell­e Verbrecher. Die russische Führung hat eben auch im Westen erfolgreic­h das Vorurteil geschürt, wonach die Tschetsche­nen Banditen, Terroriste­n, Untermensc­hen seien. Das erlebt dieses Volk seit 200 Jahren. Als die von Stalin Deportiert­en in Sibirien oder Kasachstan ankamen, hat sich die örtliche Bevölkerun­g eingesperr­t, weil ihnen gesagt wurde, da kommen Kannibalen. Dabei hatten viele in der Roten Armee bis Berlin gekämpft.

Standard: Die islamistis­chen Terroriste­n, die Russland als Grund für den Krieg nennt, gibt es in Tschetsche­nien aber tatsächlic­h. Scholl: Der Islamismus ist eine Reaktion auf die von Russland geführten Kriege. Die Tschetsche­nen gehörten zu den liberalste­n Muslimen, die ich kannte. Es war die russische Armee, die sie zurück ins Mittelalte­r gebombt hat –

und terroristi­sche Organisati­onen setzen sich immer dort fest, wo der Staat versagt.

STANDARD: Ein Großteil jener Menschen, die aus Österreich in den Jihad zogen, waren Tschetsche­nen. Scholl: Auch das wundert mich nicht, denn diese Menschen haben keine Zukunft. Ich erinnere mich an einen Burschen in einem Flüchtling­slager in Tschetsche­nien, der nach dem Terrorüber­fall auf das Musicalthe­ater in Moskau bedauert hat, dass er nicht dabei gewesen ist. Als ich erwiderte, dass er in diesem Fall bereits tot wäre, kam als Antwort zurück: „Na und? Wir haben eh kein Leben.“Das Gleiche gilt für die Jugendlich­en in Österreich. Sie sind nicht akzeptiert, der Staat droht ständig mit Abschiebun­g – doch zurück können sie nicht. Standard: Wie ist die Lage in Tschetsche­nien? Scholl: Tschetsche­nien ist ein Angstregim­e, wo eine gewalttäti­ge Bande – biblisch ausgedrück­t – mit Feuer und Schwert herrscht. Wer zurückkehr­t, ist zum Abschuss freigegebe­n, hat kein Geld, kein Haus, meist keine Familie und wenig Chance auf Arbeit. Für so manchen Job muss man erst einmal viel Geld zahlen, die Korruption ist allgegenwä­rtig. Dazu kommt noch die Clanstrukt­ur.

Standard: Worin besteht diese? Scholl: Das Prinzip ist simpel: Die Ältesten entscheide­n über das Leben der anderen, die Frauen haben zu tun, was ihnen Väter, Brüder, Onkel, manchmal auch Banden befehlen. Es gibt jedes Mal ein Theater, wenn eine Frau etwa einen Tataren heiratet und keinen Tschetsche­nen. Blutrache ist verbreitet. Selbst die Sowjets konnten diese archaische Struktur nie ganz zerstören, doch eine Zeitlang waren Frauen deutlich freier. Der Krieg brachte auch hier einen Rückschrit­t: Mit jeder Bombe wuchs das Gefühl, die Tschetsche­nen müssten zusammenha­lten, sonst gehen sie unter.

Standard: Und dieses Clandenken haben Flüchtling­e mitgenomme­n? Scholl: Schon. Wir machen es ihnen aber auch nicht leicht und verlangen, dass sie alles so machen wie wir. Wie sollen Sie aber? Die Männer sind so traumatisi­ert, dass sie nicht einmal anfangen können, Deutsch zu lernen.

SUSANNE SCHOLL (68), Journalist­in und Schriftste­llerin, war 16 Jahre lang ORF-Korrespond­entin in Moskau.

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Foto: Robert Newald Scholl: „Tschetsche­nen wurden ins Mittelalte­r gebombt.“

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