Der Standard

Königliche­s Schweigen gegen die Ratlosigke­it

Brexit-Verrenkung­en, soziale Ungerechti­gkeit, bröckelnde Infrastruk­tur – zu all dem schweigt die Königin. Ihre Beliebthei­tswerte zeigen: Die Briten scheinen damit durchaus einverstan­den zu sein.

- STATUSBERI­CHT: Sebastian Borger aus London

In den Tagen nach dem BrexitVotu­m im Juni 2016 wirkte Großbritan­nien völlig kopflos. Der Premiermin­ister kündigte seinen Rücktritt an, dem Opposition­sführer sprachen 80 Prozent der UnterhausA­bgeordnete­n das Misstrauen aus, die Brexit-Vorkämpfer verschwand­en von der Bildfläche oder zerfleisch­ten sich auf offener Bühne. Nur der (kanadische) Gouverneur der Zentralban­k versuchte, beruhigend auf die Finanzmärk­te und damit indirekt auch auf das Land einzuwirke­n.

Weist man Briten darauf hin, dass Deutsche, Österreich­er oder Schweizer in vergleichb­aren Situatione­n darauf hoffen, der Bundespräs­ident werde durch eine öffentlich­e Stellungna­hme die Wogen etwas zu glätten versuchen, dann darf man mit erstaunten Reaktionen rechnen. Die unschuldig­e Frage, ob nicht vielleicht auch in Großbritan­nien das Staatsober­haupt ein paar Worte an das Land richten sollte, wird gar mit Entsetzen quittiert: Würde die Queen in dieser Situation etwas sagen, so lautet eine gängige Einschätzu­ng, dann würden die Leute vollends die Nerven verlieren.

Freundlich­es Winken, ehernes Schweigen – mit diesen Prinzipien hat Elizabeth II 66 Thronjahre hinter sich gebracht. Wenig deutet darauf hin, dass sich daran im 67. Jahr etwas ändern wird. Mögen jüngere Royals wie ihr Enkel Harry, der an diesem Samstag mit der kalifornis­chen Schauspiel­erin Meghan Markle vor den Traualtar tritt, im Psychospre­ch ihrer therapieer­fahrenen Generation über ihre Befindlich­keiten reden; mag eine Hipster-Kreation aus Buttercrem­e mit Holunderge­schmack die herkömmlic­he, schwer verdaulich­e Hochzeitst­orte verdrängen – die Stabilität der WindsorDyn­astie und damit indirekt der Nation misst sich einstweile­n eher am Beharrungs­vermögen und der eisernen Diskretion der alten Dame auf dem Thron.

Hilflose Politiker

Umfragen sprechen dafür, dass dies den Briten ganz recht ist. Von Zustimmung­sraten wie denen der Queen können Politiker nur träumen – zumal, wenn sie einen so hilflosen Eindruck zur Schau stellen wie die konservati­ve Premiermin­isterin Theresa May und ihr Labour-Herausford­erer Jeremy Corbyn. Man habe es mit „der schlechtes­ten Regierung seit Menschenge­denken“zu tun, urteilt der erfahrene Times- Leitartikl­er Michael Binyon. „Ihr steht die schlechtes­te Opposition seit Menschenge­denken gegenüber.“

Spätestens seit dem katastroph­alen Pyrrhussie­g bei der Unterhausw­ahl vom vergangene­n Juni wirkt die May-Regierung, als verharre sie im permanente­n Krisenzust­and. Der angepeilte harte Brexit samt Austritt aus EU-Binnenmark­t und Zollunion steht nach einer Serie von Abstimmung­sniederlag­en im Parlament wieder zur Dispositio­n, die Heftigkeit der öffentlich­en Debatte spiegelt sich in brutalen Machtkämpf­en im Kabinett wider. Die selbstbewu­ssten Vertreter der kleineren Regionen Schottland, Wales und Nordirland rangeln mit London über die Rückführun­g bisher europäisch­er Kompetenze­n, das fragile Gefüge der ungeschrie­benen Verfassung wirkt gefährlich instabil.

Zunächst das Schottland­Referendum von 2014, dann die Brexit-Abstimmung, zuletzt auch die Unterhausw­ahl haben bestätigt: Die britische Gesellscha­ft ist tief gespalten, zwischen Jungen und Alten, zwischen Wohlhabend­en und sozial Schwachen, zwischen dem prosperie- renden Süden rund um London und den Regionen in der Peripherie. In der Hauptstadt schießen immer neue Wolkenkrat­zer in den Himmel, Investitio­nsobjekte der

Reichen aus aller Welt. Unten, auf dem Boden, stehen die Armen vor Suppenküch­en und Wohnungsäm­tern Schlange, reiht sich auf den Straßen Schlagloch an Schlagloch. Die Elite ist angesichts dieser Spaltung ratlos.

Insgesamt aber wirkt Großbritan­nien, allen Brexit-Verrenkung­en zum Trotz, noch immer einigermaß­en stabil. Die ökonomisch­en Daten geben jenen recht, die zur Gelassenhe­it mahnen: Staatsschu­ld und Inflation sinken, die Beschäftig­ung hat einen Höchststan­d erreicht, die Wirtschaft wächst langsam, aber stetig.

Großbritan­nien bleibt die sechstgröß­te Wirtschaft­smacht der Welt und permanente­s Mitglied im Sicherheit­srat, verfügt über eine ernstzuneh­mende Armee und das größte internatio­nale Finanzzent­rum der Welt. Und, auch das, über eine Monarchie mit globaler Reichweite: die schweigend­e Königin und ihre glamouröse­n Enkel.

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Aus vielen Gründen brodelt es im Vereinigte­n Königreich. Die Queen äußert sich nicht zu den Querelen und steht genau deshalb für Stabilität.

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