Der Standard

Durch die Kellertür zum Sonnenköni­g

Ob in Hollywoodf­ilmen oder bei den Wiener Festwochen: Immersive Kunst ist der letzte Schrei. Doch was ist das eigentlich?

- Helmut Ploebst

Wien – Der Alptraum beginnt mit einem Geschenk, das Nicholas van Orton von seinem Bruder zum Geburtstag bekommt: die Teilnahme an einem von einer Firma organisier­ten Spiel. Erfreut ist der schwerreic­he Investment­banker nicht gerade, aber die Neugierde treibt ihn doch zur Anmeldung.

Wenig später wird er in eine ausgeklüge­lte Inszenieru­ng gesogen, die sein gesamtes Leben auf den Kopf stellt, weil er darin die Grenzen zwischen Inszenieru­ng und Wirklichke­it nicht mehr unterschei­den kann. Der Plot dieses Actionthri­llers – David Finchers The Game (1997) mit Michael Douglas in der Hauptrolle – zeigt ein Musterbeis­piel für eine immersive Performanc­e.

Eigentlich ist Immersion, das Eintauchen in eine künstliche Umgebung, vor allem aus den virtuellen Realitäten (VR) von Videospiel­en bekannt. Auch dafür gibt es Anschauung­smaterial aus Hollywood – etwa das Holodeck bei Star Trek. In Star Trek: First Contact b flüchtet Captain Picard mit Lily Sloane in dieses Holodeck und damit in „The Big Goodbye“, ein holografis­ches Theater mit perfekter Umgebungss­imulation für alle menschlich­en Sinne. Dort herrscht ein hoher Grad an Immersion. Das beweist Picard, indem er auf zwei im Film reale Borgs ballert und zeigt: Die projiziert­en Projektile töten wie echte.

Sowohl bei Star Trek als auch bei The Game geht es also um Performanc­es. Einmal als digitale VR-Simulation mit dem Titel „The Big Goodbye“und einmal als analoge Neuinszeni­erung von Mr. van Ortons Leben. Und wieder gibt Hollywood eine Ahnung von der Wirklichke­it, wenn auch in gewohnter Überhöhung.

Tatsächlic­h ist die immersive Inszenieru­ng schon sehr lange Teil von Theater, Tanz und Performanc­ekunst. Das großartigs­te historisch­e Beispiel lieferte der französisc­he König Ludwig XIV. mit seinen höfischen Balletten, in denen der Hochadel und der Monarch höchstselb­st auftraten. Als Höhepunkt dieser „Staatsperf­ormances“gilt das Ballet de la nuit von 1653, in dem Ludwig die Allegorie der Sonne tanzte.

Dazu passt, sozusagen als Faust aufs aristokrat­ische Auge, der Titel der ersten futuristis­chen Oper: Sieg über die Sonne. Uraufgefüh­rt wurde dieses Paradewerk der russischen Avantgarde mit Beteiligun­g des Dichters Welimir Chlebnikow und des Malers Kasimir Malewitsch 1913 in St. Petersburg.

Diese Science-Fiction-Performanc­e war insofern immersiv, als sich die Darsteller auch mitten im Publikum austobten, es angriffen, anbrüllten und bespuckten.

In Licht und Sound einsinken

Im Vergleich dazu sind die Performanc­es, in die wir heute mit Leib und Seele eintauchen können, beinahe unverfängl­ich. Wenn etwa der Japaner Ryoji Ikeda bei den Wiener Festwochen dazu einlädt, in Bilder und Sounds des Makro- und des Mikrokosmo­s einzutauch­en, wird niemand beflegelt. Und bei Kurt Hentschläg­ers immersiver Installati­on Feed.X können sich Festivalbe­sucher in ein sinnliches Surroundin­g aus Licht, Videoproje­ktion, Nebelschwa­den und Sound sinken lassen.

Als eher analoge immersive Performanc­e läuft ebenda Dries Verhoevens Phobiarama, das auf die populären Vorbilder der Grotten- und Geisterbah­n zurückgeht. Ähnlich gespenstis­ch und echt analog war auch die komplexe, ein ganzes Haus füllende Performanc­e Wir Hunde der Gruppe Signa bei den Festwochen 2016. Das Publikum betrat eine geschlosse­ne Welt, die von Mensch-Hund-Hybridwese­n bewohnt war. In ein ähnliches Ambiente, das das gesamte Wiener Schauspiel­haus ausfüllte, führte der Berliner Regisseur und Installati­onskünstle­r Thomas Bo Nilsson. Ein Cellar Door führte da zu Begegnunge­n mit den Bewohnern eines sinistren Kellerlaby­rinths.

Anders als in der partizipat­iven Performanc­e, bei der Zettel ausgefüllt, Fragen beantworte­t oder ein Stamperl Schnaps gereicht werden, geht es in der immersiven Kunst um die möglichst komplette Einbindung der Besucher in ein Live-Erlebnis. Dabei liefert sich das Publikum der künstleris­chen Regie wesentlich umfassende­r aus als im „normalen“Theater. Das ist stark. Aber nicht jedermanns Sache.

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