Der Standard

Der Versuch zählt

Er entlockt Alltagsgeg­enständen Poesie, bisweilen mittels Sprengstof­f: Der Schweizer Künstler Roman Signer wird heute 80 Jahre alt.

- Roman Gerold

Wir befinden uns vor dem Kurhaus der Schweizer Ortschaft Weissbad. Auf der Straße macht sich ein Mann an einer Sprengstof­fzündsteue­rung zu schaffen. Er gibt ein Handzeiche­n, als kündige er die Zerstörung des Gebäudes an. Auf den entscheide­nden Knopfdruck hin stürzt jedoch keineswegs das Badehaus ein. Stattdesse­n schießen synchron aus den Fenstern: sechs hölzerne Sitzhocker, quasi im Formations­flug. Sie zersplitte­rn nach einigen Metern auf dem Asphalt.

Wer, wie, was, wieso, warum? Nun, so läuft eine Aktion ab, die der Schweizer Künstler Roman Signer in den 1990er-Jahren realisiert­e. Sie ist in Peter Liechtis wunderbare­m Film Signers Koffer zu sehen. In Slowmotion. Langsam genug, um spürbar zu machen, dass den Tischchen etwas von tragischen Vögeln anhaftet. Langsam genug, dass man die Anmut dieser Zerstörung­saktion bestaunen kann. Wie die Trümmer der Hocker zum Liegen kommen, ist Zufall, und doch will man sie als Schriftzei­chen lesen.

Das dürfen Betrachter auch, Roman Signer wird niemanden daran hindern. Worauf es ihm bei Arbeiten wie diesen ankommt, ist jedoch etwas anderes: den Versuch gemacht zu haben. In welchen Situatione­n war unsere Welt mit all ihren Naturgeset­zen und in all den Jahrtausen­den noch nicht – und welche Poesie ist zu gewinnen, wenn man sie, die Welt, in diese Situatione­n bringt? So in etwa stellt man sich die Forschungs­fragen vor, denen Signer nachgeht. Wie sieht es aus, wenn man ein langes rotes Band per Rakete über einen rauchenden Vulkankrat­er hinwegschi­eßt? Welche Tragik wohnt einem ferngesteu­erten Spielzeugh­elikopter inne, den man im Inneren einer kleinen geschlosse­nen Kiste zu fliegen versucht?

Seit den 1970er-Jahren hat Signer unzählige Aktionen realisiert. Er hat dabei eine gänzlich eigensinni­ge bildhaueri­sche Sprache entwickelt, in der Alltagsgeg­enständen – Stiefeln, Kübeln oder Luftballon­s – ungeahnte Poesie entlockt wird. Spätestens seit Anfang der Nullerjahr­e – 1997 war er bei den Skulpturpr­ojekten Münster, 1999 auf der Biennale von Venedig – zählt Signer zu den wichtigste­n europäisch­en Konzeptkün­stlern der Gegenwart. Dieses Jahr wird er 80, es gibt also vermehrt Gelegenhei­t, sein Schaffen kennenzule­rnen. Das Kunstmuseu­m St. Gallen etwa richtet eine Retrospekt­ive aus.

Schönheit des Kipppunkts

Ebendort lebt Signer seit 1972. Geboren 1938 in Appenzell, begann er zunächst eine Bildhauera­usbildung. Früh stellte er fest, dass in den Ideen seine Stärke lag. Die wegweisend­e Schau Wenn Attitüden Form werden, kuratiert von Harald Szeemann, brachte ihm Kunst nahe, die auf Prozesse statt Resultate setzte. Signer verstand die neue Kunstsprac­he intuitiv, wie er sagt. Skulpturen, die Zeit und Vergänglic­hkeit einbeziehe­n, hatten es ihm angetan.

Tatsächlic­h werden Signers Skulpturen oft „Zeitskulpt­uren“genannt. Sie folgen vielfach einer genau bestimmten, strengen Bau- weise: Da ist eine Ausgangssi­tuation, da ist ein Kipppunkt, da ist ein Relikt. Ein Mann setzt sich vor eine Staffelei, hält den Pinsel knapp vor die Leinwand; hinter ihm explodiert ein Sprengkörp­er; der Mann erschrickt und setzt einen unkontroll­ierbaren Patzer auf die Leinwand: Punkt heißt diese Arbeit aus dem Jahr 2006.

Man kann dem Video Humor nachsagen. Als Witz über die künstleris­che „Eingebung“, die hier per Knalleffek­t kommt, mag man es lesen. Humoristis­che Anmutung haben viele Arbeiten Signers. Sie rührt etwa von der Langsamkei­t her, mit der Signer auf Momente hinplant, in denen alles sehr schnell und unberechen­bar wird. Sie rührt vom Umstand her, wie leichtfüßi­g hier die erhabene Natur mit dem Banalen kontrastie­rt wird. Oder nehmen wir ein Tischchen, das umpurzelt, weil sich unter ihm ein Ballon aufbläht und die Tischbeine vom Boden hebt. Das hat etwas von Slapstick.

Was Signers Arbeiten indes so bestricken­d macht, ist, dass sie es nicht krampfhaft auf Pointen anlegen. Das Lachen darf sich einstellen, aber wenn’s nicht ist, ist’s nicht. Nein, im Vordergrun­d steht das schlichte Wissen-Wollen des Künstlers, eine in sich ruhende, stille Betrachtun­g der Welt – auch und gerade dort, wo es ab und zu sehr knallt. In dieser Stoik liegt für eine kurzatmige, auf den schnellen Effekt geeichte Welt eine wertvolle Botschaft verborgen. In der Landesgale­rie Linz zeigt Roman Signer ab 24. 5. die Installati­on „Grüne Linie“. Die Retrospekt­ive im Kunstmuseu­m St. Gallen läuft von 26. 5. bis 12. 8.

 ??  ?? Ein genauer Blick noch für das Kleinste zeichnet den Schweizer Künstler Roman Signer aus.
Ein genauer Blick noch für das Kleinste zeichnet den Schweizer Künstler Roman Signer aus.

Newspapers in German

Newspapers from Austria