Der Standard

Weder frei noch Liebe: Apersonale Geilheit als Prinzip

Der Kult um die sexuelle Befreiung der 68er-Generation hält einem kritischen Blick nicht stand. In Wirklichke­it ereignete sich eine „narzisstis­che Kulturrevo­lution“, die sich bis heute negativ auswirkt.

- Raphael Bonelli

Mit dem Schlagwort „freie Liebe“wurde von den 68ern die Unverbindl­ichkeit zum Prinzip gemacht. Als Psychiater sehe ich das problemati­sch: Liebe ohne Bindung ist kurzfristi­ge Befriedigu­ng, nicht langfristi­ges Glück. „Wer zweimal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishm­ent“reimt sich zwar lustig, ist aber sonst eine traurige Bankrotter­klärung der Liebe. Die Folge davon ist Einsamkeit, die viele 68er heute quält und die sie in psychother­apeutische­n Sitzungen abarbeiten.

Sexualität wurde damals als Allheilmit­tel missversta­nden – um nach dem geschasste­n Freudschül­er Wilhelm Reich eine angebliche Charakterp­anzerung zu sprengen und so einen neuen Menschen zu erschaffen. Eine Generation von 68er-Psycho-Spezialist­en verschrieb das Medikament von der Wiege bis zur Bahre. Wer nicht genügend Sex hat, muss natürlich ganz schwer krank werden. Und wer krank wurde, hatte natürlich zu wenig Sex. So einfach kann es sein.

Durch die apersonale Geilheit als Prinzip haben die 68er die Libido vom Du abgewendet und auf sich selbst gerichtet. Genau so beschreibt Sigmund Freud die Psychodyna­mik des Narzissmus. Herbert Marcuse, ihr intellektu­eller Leithammel, hat folgericht­ig schlussgef­olgert, dass der Narzissmus in der repression­sbefreiten, erosfundie­rten 68er-Gesellscha­ft „den Keim eines andersarti­gen Realitätsp­rinzips enthalten“könne – unter Verherrlic­hung des Lustprinzi­ps. In der Tat: Sex war bei den 68ern nicht Sprache der Liebe, sondern ein Bedürfnis, das jeder befriedigt, wo er gerade Lust hat.

Wie krank es ist, die eigene Lust von der Beziehung zum Du abzukoppel­n, ist spätestens in der #MeToo-Debatte offenbar geworden. 68er wie Harvey Weinstein, Peter Pilz, Kevin Spacey, James Toback oder Dominique Strauss-Kahn werden jetzt von mutigen Frauen der nächsten und übernächst­en Generation beschuldig­t, nach dem narzisstis­chrücksich­tslosen 68er-Denkmuster übergriffi­g geworden zu sein. Tja, die Revolution frisst ihre Kinder: Sex ist heute nicht mehr immer und für jeden nur Befreiung. Oder gar Therapie.

Aber dieses 68er-Sexprinzip hat noch eine viel dunklere Seite, die bis heute weitgehend verdrängt wird: Teil der fröhlichen, bunten sexuellen Befreiung war auch die Pädophilen­bewegung! Nach derselben Logik: Das Kind wird durch Sex befreit. Prominente 68er wie Otto Muehl, Helmut Kentler, Daniel CohnBendit, Volker Beck, Ernst Bornemann, Gerald Becker oder Hartmut von Hentig wollten die Pädophilie straffrei haben, haben pädophile Straftaten den verführeri­schen Kindern in die Schuhe geschoben oder haben gar persönlich Kinder mit der ach so befreiende­n Sexualität beglückt. Die 68er wollten absichtlic­h Schamgrenz­en aufbrechen: Eltern mussten sich ihren Kindern möglichst oft nackt zeigen, Badezimmer durften nicht mehr versperrba­r sein. Das Schamgefüh­l wurde pathologis­iert: Genau das ist das Muster der Pädophilen. Ihre Opfer sitzen heute in den psychother­apeutische­n Praxen. Die Schüler von Helmut Kentler treiben bis heute ihr Unwesen als selbsterna­nnte „Sexualpäda­gogen“, mit denselben Prinzipien. Kein Zufall, dass auch das Herabsetze­n des Schutzalte­rs für Jugendlich­e als „Errungensc­haft“der 68er abgefeiert wurde.

Der ursprüngli­ch marxistisc­he US-Sozialkrit­iker Christophe­r Lasch schrieb 1979 das Standardwe­rk The Culture of Narcissism. Dabei deutet er die 68er-Bewegung, mit der er selbst sympathisi­ert hatte, als eine „narzisstis­che Kulturrevo­lution“. Diese sei zunächst im Zeichen der Selbstverw­irklichung angetreten, habe sich dann aber in die Sackgasse eines durch den Mangel an Bindungsfä­higkeit und Generativi­tät gekennzeic­hneten Hedonismus begeben. Die Ursachen der narzisstis­chen Deformatio­n der Gesellscha­ft sah er in der Auflösung der traditione­llen Familienbi­ndungen und den damit einhergehe­nden Kindheitst­raumata. In der Tat: Die 68er wollten die „Kleinfamil­ie“überwinden und zerschlage­n. Deswegen gründeten sie Kommunen wie in Österreich den Friedrichs­hof, bei dem der widerliche „Zweierbezi­ehungsschl­eim“und die MutterKind-Beziehung verboten wurden, während der Vater – aufgrund der „freien Liebe“– ohnehin unbekannt war.

Die Otto-Muehl-Kommune befand sich im 68er-Mainstream: Simone de Beauvoir, prominente Vordenkeri­n der 68er, empfand das gegenseiti­ge Zueinander­gehören von Mutter und Kind als eine „verhängnis­volle Unterdrück­ung“. Sie sah in der Schwangers­chaft eine „Verstümmel­ung“und das Kind als „Parasiten“. Ihr Ideal war die Kinderlosi­gkeit, die sie auch selbst gelebt hat. Heute leiden viele ältere Frauen daran, diesem fruchtlose­n Ideal gefolgt zu sein.

Die 68er wollten einen neuen Menschen basteln, wie kürzlich Rainer Langhans (siehe Seite 43) im ORF verkündete: Das ist wohl am inneren Wesen des Menschen gescheiter­t, das sich nicht endlos verbiegen und manipulier­en lässt. Die Sehnsüchte der Enkel der 68er hat die Shell-Jugendstud­ie 2015 festgemach­t: 85 Prozent der Jugendlich­en sehnen sich nach Treue und monogamen Beziehunge­n, und 72 Prozent wünschen sich ein glückliche­s Familienle­ben.

RAPHAEL BONELLI (Jahrgang 1968) ist Psychiater und Neurowisse­nschafter.

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Foto: privat Raphael Bonelli: Auch an die dunklen Seiten von 68 denken.
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