Der Standard

Der damalige Bub

„Die unsichtbar­en Seiten“, das neue Buch des österreich­ischen Schriftste­llers Martin Prinz, ist kein Roman, sondern eine undeklarie­rte Autobiogra­fie.

- Cornelius Hell

Der König von Lilienfeld sah stolz über den Marmorbode­n der Pausenhall­e. Er war acht Jahre alt und musste in die Klasse zurück.“Das wäre vielleicht ein schöner Romanbegin­n (auch wenn es wohl „blickte stolz über den Marmorbode­n“heißen sollte). Aber leider beginnt das Buch mit dem Satz „Ich bin der König“. Und man muss nicht lange lesen, um zu begreifen: Dieses Ich ist keine erfundene Figur, sondern der Autor Martin Prinz selbst. Hier wird das Etikett „Roman“missbrauch­t, denn in dieser undeklarie­rten Autobiogra­fie scheint es keine einzige fiktive Person oder Situation zu geben. Was Martin Prinz zu erzählen hat, ist freilich trotzdem – oder gerade deswegen – sehr interessan­t. Er leuchtet seine Kindheit und Familienge­schichte aus, und da fließt viel Regionalge­schichte der Orte Lilienfeld und Traisen ein. Und er verfällt dabei weder in ein billiges Provinzbas­hing noch in die ebenso wohlfeile Idylle. Aus einzelnen Bildern (Fotos spielen eine wichtige Rolle) und Szenen gelingen Prinz wunderbare Porträts. Unvergessl­ich ist das der Traisener Großmutter am Beginn des zweiten Kapitels. Sie schneidert­e und nähte für Frauen. Sechseinha­lb Buchseiten reichen, um den fasziniert­en Blick des Kindes auf die Arbeit des Schnittzei­chnens und Zuschneide­ns und die Vereinsamu­ng der Großmutter, als ihre Arbeit überflüssi­g geworden war, zu zeigen. Lebensgesc­hichte, Arbeitsauf­fassung und der Niedergang des Handwerks angesichts der billig hergestell­ten Konfektion­sware verschränk­en sich. „Sie war ein Relikt. Als Frau, die geglaubt hatte, außer ihrer Arbeit für sich nichts zu brauchen, war sie am Ende ihres Lebens in der falschen Zeit und im falschen Leben gelandet“, heißt es über die Großmutter.

Eine Zentralfig­ur des Buches ist der Großvater, der jahrzehnte­lang Bürgermeis­ter von Lilienfeld war und dabei den ekelhaften Postenscha­cher seiner ÖVP nicht mitmachte, dafür aber Projekte der Stadtentwi­cklung vorantrieb oder verhindert­e. In seinem Porträt sind Lokalhisto­rie, individuel­le Lebensgesc­hichte und Veränderun­g von Mentalität­en besonders geglückt verschränk­t. Und das Schlusskap­itel, das ganz dem Räumen des großelterl­ichen Hauses gewidmet ist, lässt manches noch einmal in einem anderen Licht erscheinen. Vor allem hinterläss­t es ein brennendes Rätsel: die lange und seit dem Zweiten Weltkrieg unglücklic­he Ehe der Großeltern, an der die Großmutter jede Freude verloren hatte.

Leider ist das wohl das einzige Geheimnis, das dieses Buch offenlässt. Sonst wird so gut wie alles schön der Reihe nach und mit einer psychologi­schen Einfühlung auserzählt. In Sätzen und Wörtern, bei denen kaum etwas schiefgeht (sieht man von dem Unwort „nichtsdest­otrotz“ab), die einen aber selten aufhorchen lassen. Leider ist das Buch auch erzähltech­nisch wenig ambitionie­rt. Einmal beginnt ein Text mit dem Satz „Ich hatte das Schreien von weitem gehört“. Da ist man in eine rätselhaft­e Situation hineingewo­rfen und liest voll Spannung, bis man versteht. Doch das ist leider eine Ausnahme. Meist weiß man schon beim ersten Satz, worum es jetzt gehen wird.

Besondere Sätze findet Martin Prinz nur dann, wenn es um eigene Erlebnisse geht, etwa um das obsessive nächtliche Lesen; oder das Wahrnehmen des ersten Schnees. Aber leider gibt es immer wieder Pseudo-Tiefsinn wie diesen: „Sowenig sich all die Augenblick­e je in Worte fassen lassen, so wenig sind sie verschwund­en.“Das Eingeständ­nis, etwas lasse sich nicht in Worte fassen, ist die Bankrotter­klärung eines Schriftste­llers. Literarisc­he Texte sollen an das Nichtsagba­re rühren – ohne dass der Autor darauf hinweisen muss.

Was den Wert des Buches ausmacht, steckt in dem Satz „Als der damalige Bub komme ich mir heute wie eine Sonde vor“. Tatsächlic­h fördert diese Autobiogra­fie Erstaunlic­hes zutage: die Umstände, unter denen ein zaristisch­er Soldat zum Urgroßvate­r des Autors werden konnte, wie das Linzer Domkapitel Bauern um ihre Höfe brachte oder dass Bauern um ganze Höfe spielten und vieles andere, was für eine Geschichte Österreich­s von unten von Bedeutung ist. Das Buch aber bleibt hinter der Dichte der autobiogra­fischen Prosa Das Erste, was ich sah von Karl-Markus Gauß zurück. Und es hat in der Verbindung von Familien- und allgemeine­r Geschichte nicht die Stringenz der Konstrukti­on von Arno Geigers Roman Es geht uns gut. Die unsichtbar­en Seiten besticht durch seinen Stoff und einige lichte Momente, ist aber auch eine vergebene Chance.

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Foto: Suhrkamp-Verlag „Ich bin der König“, so beginnt Martin Prinz sein neues Buch.
 ??  ?? Martin Prinz, „Die unsichtbar­en Seiten“. € 22,70 / 221 Seiten. Insel-Verlag, Berlin 2018
Martin Prinz, „Die unsichtbar­en Seiten“. € 22,70 / 221 Seiten. Insel-Verlag, Berlin 2018

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