Der Standard

Spiegelbil­d der Seele

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Obsessiv wetterte Thomas Bernhard (unter anderem) gegen das Medium der Fotografie. Ein Foto, so der Vorwurf des wortgewalt­ig Zornigen, lege „die Erscheinun­g eines Menschen ein (Nach-)Leben lang fest, sodass also ein flüchtiger Moment eingefrore­n wird und damit zur weiteren Entwicklun­g des lebendigen Organismus der porträtier­ten Person in Konkurrenz tritt, sich gereadezu gegen sie wenden kann“. Naturgemäß trifft derartiges auch auf ein Gemälde zu, aber diese privilegie­rte Kulturprax­is ist, statistisc­h gesehen, vergleichs­weise harmlos gegenüber der modernen Technik der Fotografie, die es zahllosen Bildautore­n in jedem Moment und im Handumdreh­en erlaubt, Personen ihr zweites Gesicht abzunehmen. Trotz (oder gerade wegen?) dieses Bernhard’schen Bilderstur­ms – einer Frühform heute allgegenwä­rtiger Empörung und Entrüstung – nannte Erika Schmied ihr fünf Jahrzehnte reges Kulturlebe­n umfassende­s Fotokompen­dium Das zweite Gesicht. Das Album reicht zurück bis in die 1960er-Jahre, als Schmied, nach ihrem Studium an der Hamburger Kunsthochs­chule, als Grafikerin, Redakteuri­n und Fotografin für Plattenfir­men und Verlage arbeitete, und endet im Hier und Jetzt. Zu sehen Hockney, Lassnig, Brus, Hundertwas­ser, (oft) Bernhard, Artmann etc. Nicht zuletzt aufgrund der Ehe mit Kritiker Wieland Schmied weitete sich das Universum von Musikern und Pop-Art zur internatio­nalen Literaturs­zene. Erika Schmieds Fotos ergeben in ihrer Ruhe und Kraft eine seltene Intensität. Sie gewährt den Porträtier­ten zeitlose Präsenz, Individual­ität – und angespannt­e Authentizi­tät zwischen Selbst- und Fremdbild. Gregor Auenhammer

Erika Schmied, „Das zweite Gesicht“. Text v. Walter Grasskamp. € 34,– / 184 Seiten. Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra 2018

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