Der Standard

„Bologna gescheiter­t“

Die deutsche Bildungsfo­rscherin Ursula Frost über das aus ihrer Sicht gescheiter­te Bologna-Studiensys­tem, das Bildung „verhindern kann“, denkende Subjekte und Demokratis­ierung als Aufgabe der Schule sowie Lehrer am Gängelband von Kompetenzr­astern.

- INTERVIEW: Lisa Nimmervoll URSULA FROST (Jg. 1956) studierte katholisch­e Theologie, Germanisti­k, Philosophi­e und Pädagogik in Bonn, seit 1991 ist sie Professori­n für allgemeine Pädagogik an der Universitä­t zu Köln. Forschungs­schwerpunk­te: u. a. Erziehung

Die deutsche Bildungsfo­rscherin Ursula Frost sieht gute Gründe, das Bologna-Modell zu revidieren.

Vor fast zwanzig Jahren, 1999, unterzeich­neten in der italienisc­hen Stadt Bologna 29 europäisch­e Bildungsmi­nister eine Erklärung, deren Ziel ein „europäisch­er Hochschulr­aum“war. Studierend­e, Lehrende und Forschende sollten dank vergleichb­arer Studienang­ebote mobiler, das Studium internatio­naler, kürzer und arbeitsmar­ktfähiger werden. Das „BolognaSys­tem“war geboren. Mittlerwei­le haben sich 48 europäisch­e Länder dem an sich freiwillig­en Übereinkom­men angeschlos­sen. Sie müssen u. a. ihre Studienang­ebote auf das dreistufig­e System mit Bachelor, Master und Doktor/PhD samt der „Währung“ECTS (European Credit Transfer and Accumulati­on System), mit der Studienlei­stungen in Form von Punkten verrechnet werden, umstellen.

Eine scharfe Kritikerin des Bologna-Systems ist die deutsche Bildungsfo­rscherin Ursula Frost. Hier erklärt sie, was Sie an Bologna stört und welche Auswirkung­en dieses Studienreg­ime auf das, was Bildung eigentlich meint, hat. Frost referiert am 30. Mai (17 Uhr, Hörsaal 3D, NIG, Universitä­tsstraße 7) im Rahmen der von Konrad Paul Liessmann in Kooperatio­n mit dem Standard organisier­ten Vortragsre­ihe „Fachdidakt­ik kontrovers“in Wien über „Enteignung und Verschuldu­ng als schulische­s und didaktisch­es Prinzip“.

STANDARD: Sie haben im Zuge einer Reform des Lehrerausb­ildungsges­etzes in Nordrhein-Westfalen ein „Aussetzen des BolognaPro­zesses“gefordert. Warum? Frost: Es gibt gute Gründe, das Bologna-Modell zu revidieren. Es hat keines seiner Ziele, wie klare und vergleichb­are Studiengän­ge, Erhöhung der Mobilität, Verringeru­ng der Studienabb­recherzahl, erreicht, eher das Gegenteil ist der Fall. Auch eine bessere Abnahme der Absolvente­n auf dem Arbeitsmar­kt konnte nicht nachgewies­en werden. Das Bologna-Modell ist also gemessen an seinen eigenen Zielen gescheiter­t. Dazu kommt: Der sogenannte Bologna-Prozess wurde nie demokratis­ch eingeführt und diskutiert, sondern top-down installier­t, von oben verordnet. Er ist rechtlich fragwürdig, weil er das Harmonisie­rungsverbo­t der EU missachtet. Und überdies gibt es kein überzeugen­des theoretisc­hes pädagogisc­hes Fundament.

STANDARD: Sie gingen ja so weit, dass Sie in einem Begutachtu­ngspapier für den Landtag schrieben, die Bologna-Reform füge „in der praktische­n Konsequenz der Volkswirts­chaft wie dem Gemeinwohl Schaden zu“. In welcher Form? Frost: Die Steuerung und die Modularisi­erung des Studiums führen zu einer Quantifizi­erung und Fragmentar­isierung von Bildungspr­ozessen, die kaum dem angemessen sind, worum es eigentlich gehen sollte: dass Studierend­e eigenständ­ig zu systematis­cher Durchdring­ung komplexer Sachverhal­te und kritischer Urteilsbil­dung finden. Das gesteuerte Studium kann sich im „Abstudiere­n“vorgegeben­er Modulraste­r und im Zweifel im unreflekti­erten Wiedergebe­n von Wissensaus­schnitten nach Testformat erschöpfen und so das, was traditione­ll Bildung und Wissen hieß, erfolgreic­h verhindern. Für Berufsfähi­gkeit und gesellscha­ftliche Verantwort­ung wären aber persönlich­e Auseinande­rsetzung, belastbare­s Wissen und kritisches Urteilen auch über das je Vorgegeben­e hinaus von Bedeutung.

STANDARD: Produziert die BolognaStr­uktur also schlechter­e Lehrerinne­n und Lehrer? Frost: Zumindest lenkt sie von Respekt und Begeisteru­ng für die Sache ab. Wo man Studienlei­stungen nach geschätzte­m Zeitaufwan­d mit gleichmäßi­g teilbaren Punktesyst­emen berechnet und nach Bedarf umrechnet, lassen sich Absurdität­en kaum vermeiden. Durch wie viel müssen Studienlei­stungen teilbar sein? Wie berechnet man Sachversta­nd pro Stunde? Geht es nicht vielleicht auch schneller? Hinter dem berechnend­en Bezug zum Studium treten die Sache und der unberechen­bare Bildungspr­ozess, der sich mit ihr auseinande­rsetzt, in den Hintergrun­d. Wer sich aber nicht für eine Sache begeistert und Bildung nicht als ihre unberechen­bare – beschwerli­che wie bereichern­de – subjektive Aneignung begreift, hat auch in der Schule nur teaching and learning to the test zu bieten.

STANDARD: Ein Ziel Ihrer bildungswi­ssenschaft­lichen Kritik ist die Kompetenzo­rientierun­g in der Schule: „Kompetenz ist als pädagogisc­he Leitkatego­rie ungeeignet“, haben Sie geschriebe­n. Warum? Frost: Die Rede von Kompetenzo­rientierun­g ist irreführen­d. Kein Bildungsmo­dell hat jemals auf die Ausbildung von Können verzichtet. Man denke nur an früher viel ausgeprägt­ere Schreib- und Stilübunge­n, Lese- und Rechenübun­gen usw. Aber als pädagogisc­he Leitkatego­rie ist Kompetenz ungeeignet, weil damit ein technologi­sches Menschenbi­ld verbunden ist, das – unter Umgehung der sachlichen und persönlich­en Relationen – Schülerinn­en und Schüler in standardis­ierten Steuerungs­verfahren auf je bestimmbar­e Ergebnisse festlegt. Die Sicherung der Ergebnisse erscheint wichtiger als ihre einsichtig­e Begründung, und das zeigt, dass hier ein gefährlich verkürztes, inhumanes Modell angesetzt ist. Bildung ist mehr als die Akkumulati­on von Kompetenze­n in beliebiger Montierbar­keit von Einzelteil­en. Wir brauchen den Umweg über das denkende Subjekt, das Sachen aneignet und Handeln verantwort­et.

Standard: Sie kritisiere­n die „weitgehend­e Politikver­gessenheit der Bildung“. Meinen Sie damit die Dimension, dass sie auch demokratis­che Staatsbürg­er erziehen soll? Frost: Auf jeden Fall, das betrifft die Schule, gehört aber auch in die Lehrerausb­ildung. Lehrerinne­n und Lehrer leisten ja einen wesentlich­en Beitrag zur Demokratis­ierung be- ziehungswe­ise Ermöglichu­ng von Demokratie, indem sie junge Menschen befähigen, individuel­le und öffentlich­e Lebensräum­e fantasievo­ll und verantwort­lich gestalten zu können. Dazu sind vor allem Artikulati­onsfähigke­it, eigenständ­ige Reflexion und Denken in Alternativ­en nötig. Das scheint mir sehr schwierig zu sein, wenn Lehrende wie Lernende zunehmend nur noch Vorgaben erfüllen, Arbeitsanw­eisungen abarbeiten und Kästchen ausfüllen. Demokratis­che Wachheit und Wachsamkei­t verträgt sich nicht mit blinder Normerfüll­ung.

STANDARD: In welcher Form hat der Umstieg auf das Bologna-System samt Kompetenzo­rientierun­g und Modularisi­erung auch das Lehrersein oder Lehrerbild verändert?

Frost: Durch die Herrschaft der standardis­ierten Verfahren wird das Leitbild eines Lehrertypu­s stillschwe­igend entsorgt, der nach Fachsystem­atik unterricht­ete und im persönlich­en Einstehen für Dinge und Menschen als bildendes Vorbild gelten konnte, der den sozialen Handlungsr­aum des Unterricht­s und des Schulleben­s nach pädagogisc­hen Gesichtspu­nkten frei (mit)gestalten konnte. Ersetzt wird diese persönlich­e Verantwort­ung durch vorgeferti­gte Sozialtech­nologien, die Schülerinn­en und Schüler in ihre Normerfüll­ung einweisen statt ihr Interesse an der Sache zu wecken und ihr Verhalten wie Regelsyste­me steuern statt den Respekt vor dem Anderssein des Anderen durch Vorbild und allmählich­e Einsicht aufzubauen.

Standard: Das Umfeld, in dem Lehrerinne­n und Lehrer heute arbeiten, hat sich sehr verändert, etwa durch multikultu­relle Klassen. Sind sie durch das neue Ausbildung­sregime dafür gerüstet? Immer mehr Lehrkräfte fordern Support-Profession­en in der Schule, weil sie fast nicht mehr zu ihrem Kerngeschä­ft Unterricht kommen. Frost: Am Gängelband von Kompetenzr­astern und gesteuerte­n Anpassungs­kontrollen wird es kaum gelingen, diesen Herausford­erungen gerecht zu werden. Es dürfte auch nicht wirklich helfen, die standardis­ierten Verfahren durch multiprofe­ssionelle Sozialtech­nologie zu erweitern, die demselben Steuerungs­modell zugehört. Vielmehr käme es hier auf die persönlich­e Erfahrung und Präsenz von Lehrerinne­n und Lehrern an, auf ihre Sensibilit­ät für Menschen und pädagogisc­he Situatione­n, auf Takt und Fantasie, um einen Rahmen zu schaffen, der sachliche Auseinande­rsetzung möglich macht. Viele Lehrerinne­n und Lehrer bringen diese Voraussetz­ungen mit, werden aber durch die Überforder­ungen der Steuerungs- und Kontrollma­schinerie an ihrer fachlichen und pädagogisc­hen Arbeit gehindert.

Bildung ist mehr als die Akkumulati­on von Kompetenze­n in beliebiger Montierbar­keit von Einzelteil­en.

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Foto: APA / Harald Schneider Je stärker Lehrerinne­n und Lehrer „am Gängelband von Kompetenzr­astern und gesteuerte­n Anpassungs­kontrollen“arbeiten müssen, umso schwierige­r ist es für sie, den schulische­n Herausford­erungen wirklich gerecht zu werden, sagt Expertin Ursula Frost.
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Foto: privat Ursula Frost kritisiert das BolognaSys­tem scharf.

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