Die Stunde der Wahrheit kommt im Parlament
Die irakischen Parlamentswahlen wurden von einer gleichermaßen antiiranischen wie antiamerikanischen Kraft gewonnen: dem Schiitenführer Muktada al-Sadr. Nun kommt die schwierige Regierungsbildung.
Ganz ist es für die irakischen Listen und Parteien, die sich am 12. Mai den vierten verfassungsmäßigen Parlamentswahlen nach dem Sturz Saddam Husseins stellten, noch nicht ausgestanden: Zwar hat die Wahlkommission am Samstag das vorläufige Endergebnis bekanntgegeben, aber lokal gibt es Beschwerden und Nachzählungen. Besonders betroffen ist dabei ausgerechnet der kurdische Nordirak, da klagen die Oppositionspartei Gorran und mehrere kleine Parteien über Wahlbetrug.
Frage: Wer sind die Wahlsieger? Antwort: Der klare Wahlsieger ist – obwohl er gar nicht persönlich angetreten ist – der Schiitenführer Muktada al-Sadr. Er steht an der Spitze einer für die Wahlen gebildeten Allianz mit der Kommunistischen Partei und mehreren anderen kleinen Parteien. Sie sind unter dem Namen „Sairun“(Wir marschieren) angetreten und kommen auf 54 Sitze im Parlament (von 329).
An zweiter Stelle steht mit 47 Sitzen „Fath“(Eroberung): Das ist eine Allianz von meist schiitischen Iran-freundlichen Milizen unter Hadi al-Amiri. Der amtierende Premier Haidar al-Abadi ist mit seiner Liste „Nasr“(Sieg) Dritter mit 42 Sitzen.
Das heißt, keiner hat auch nur annähernd eine Mehrheit im Parlament, sie liegt bei 165 Mandaten. Und bei einer Wahlbeteiligung von 44,5 Prozent sind die Nichtwähler die größte Gruppe.
Frage: Wer wird nun Premier? Antwort: Unwahrscheinlich ist, dass Muktada al-Sadr seinen Listenersten, den relativ unbekannten Arzt Hassan al-Aqouli, dafür ins Spiel bringt. Auch Sadr selbst wollte ja nie in die Tagespolitik. Viele tippen deshalb darauf, dass Sadr Premier Abadi unterstützt. Aber für eine Regierungsbildung bräuchte es weitere Parteien. Frage: Warum gehen nicht die beiden Stärksten, Sadr und Amiri, zusammen? Antwort: Prinzipiell ausgeschlossen ist das nicht. Aber Sadr hat sich wiederholt gegen den iranischen Einfluss im Irak ausgesprochen – und genau dafür steht Amiri. Dieser wird deshalb wahrscheinlich ebenfalls Abadi umwerben. Das heißt, Abadi ist als Dritter eigentlich Wahlverlierer, könnte jedoch sowohl Königsmacher als auch König werden. Frage: Aber mit der Regierungsbildung betraut wird die Sadr-Liste? Antwort: Auch das ist nicht sicher. Bei der ersten Parlamentssitzung könnten Parteien und Listen neu zusammengehen – etwa Amiri mit Expremier Nuri al-Maliki (mit 25 Sitzen nur 5.). Gemeinsam kämen sie auf 72 Sitze und wären damit die größte Fraktion und könnten beanspruchen, mit der Regierungsbildung beauftragt zu werden. Aber natürlich ist das auch auf der Gegenseite möglich. Frage: Gibt es einen Fahrplan? Antwort: Bei der konstitutierenden Sitzung des neuen Parlaments, 15 Tage nach dem Wahlergebnis, sollte ein Parlamentspräsident gewählt werden, dann vom Parlament der Staatspräsident, der einen Regierungschef designiert, der die Regierung bildet. Dafür gibt es genaue Fristen, insgesamt sind es 90 Tage – aber nach früheren Wahlen hat dieser Prozess viel länger gedauert, als in der Verfassung vorgesehen. Frage: Seit 2005 ist der Staatspräsident stets ein Kurde, der Regierungschef ein Schiit und ein Parlamentspräsident ein Sunnit. Steht das in der irakischen Verfassung? Antwort: Nein, das steht nicht in der Verfassung. Da die Mehrheiten im Irak nun einmal so sind, ist ein Schiit als Premier wahrscheinlich. Dass wichtige Posten an andere Gruppen gehen, ist gut. Aber genauso könnte ein Sunnit Staatspräsident werden und ein Kurde Parlamentspräsident.
Frage: Im Irak ringen die USA und der Iran um Einfluss – beide haben Abadi dabei unterstützt, den „Islamischen Staat“zu bekämpfen. Wer, USA oder Iran, hat die Wahlen gewonnen? Antwort: Die beiden Erstplatzierten, Sadr und Amiri, sind beide explizit antiamerikanisch. Aber auch wenn eine Iran-freundliche Kraft auf Platz zwei liegt, so ist das doch eine kleine Minderheit im Lande. Und gewonnen hat eben genau die Sadr-Allianz, gegen die Iran im Vorfeld mobilisiert hat.
Frage: Und die Kurden und Sunniten? Antwort: Sadr sagt, dass er sie in der Regierung haben will. Es wird aber nicht leicht sein, die stärkste Kurdenpartei KDP (4. Platz, 26 Sitze) mit einem Premier Abadi zu versöhnen, der nach dem Kurdenreferendum im Herbst militärisch gegen die Kurden vorging.
Frage: Gibt es Hoffnung auf eine Stabilisierung des Irak? Antwort: Positiv ist, dass die meisten Parteiallianzen konfessionell gemischt sind, die konfessionellen/ethnischen Blöcke selbst sind fraktioniert. Die Linien weichen sich auf: Im sehr religiösen Najaf etwa gewann eine kommunistische Frau, im mehrheitlich sunnitischen Mossul ist der Schiit Abadi stark. Die Wähler wollen Sachpolitik. Sie haben die korrupten politischen Eliten satt – aber die neu nach oben gekommenen Kräfte bergen ihre eigenen Risiken.