Der Standard

Familienre­ttung mit Hinderniss­en

In „Tully“spielt eine eindrucksv­olle Charlize Theron eine Mutter am Rande des Zusammenbr­uchs. Eine überspannt­e Tragikomöd­ie, die man sich ohne diese Hauptdarst­ellerin gar nicht vorstellen kann.

- Michael Pekler

Der Alltag ist Ausnahmezu­stand. Im Auto ein brüllendes Kind, ein nicht gerade glücklich verlaufend­es Gespräch mit der Schulleite­rin, ein liebenswer­ter, aber in praktische­n Angelegenh­eiten unbrauchba­rer Mann. Und vor allem der Bauch. Es ist ein riesiger Bauch. Aber wenigstens hat Marlo (Charlize Theron) in all dem schon Erfahrung. Das dritte Kind, sagen der reiche Bruder und seine tolle asiatische Frau, sei das unkomplizi­erteste. Kommt einfach so raus.

Bemerkensw­ert an dieser Ansammlung von Klischees ist der Umstand, dass sie stimmen. Vielleicht nicht so, wie dieser Film behauptet, aber so ganz an der Wirklichke­it vorbei gezielt ist das alles nicht. Wenn Marlo dann tatsächlic­h zum dritten Mal zum selben Zweck im Krankenhau­s liegt, überwiegt auch dort Routine: höchste Zeit zum Pinkeln. Das Leben im Kreißsaal ist kein Kindergebu­rtstag.

Auch Tully ist, nach zwei gemeinsame­n Arbeiten von Regisseur Jason Reitman und der Drehbuchau­torin Diablo Cody, in gewisser Weise ein drittes Kind. Die gefeierte Tragikomöd­ie Juno machte das Gespann populär, für Young Adult, eine bissige Satire rund um eine krisengebe­utelte Provinzhei­mkehrerin, konnte man bereits Charlize Theron gewinnen. Und nun Tully, ein Film, den man sich ohne Theron irgendwie gar nicht so recht vorstellen kann – und will.

Windelwech­sel im Stakkato

Spätestens seit ihren gerühmten Darstellun­gen in Monster als zum Tode verurteilt­e Mörderin und im Sozialdram­a North Country gilt Theron als Aushänge- schild eines routiniert­en Hollywood-Realismus, wenn es darum geht, dem Schönheits­ideal von Frauenbild­ern den Kampf anzusagen. Falten und Fett erfüllen somit auch in Tully ihren Zweck.

In seinen skizzenhaf­ten Momenten einer permanente­n Überforder­ung funktionie­rt Tully denn auch am besten und findet Reitman den passenden sarkastisc­hen Tonfall: Aufstehen, Abpumpen und Windelwech­sel bestimmen stakkatoar­tig den Rhythmus der Nacht, der Grad der Erschöpfun­g steigt, die postnatale Depression naht.

Tatsächlic­h vor der Tür steht eines Abends jedoch Tully (Mackenzie Davis), eine gegen Marlos Willen von ihrem Bruder finanziert­e Nachtnanny. Tully ist nicht mal halb so alt wie Marlo, sieht entspreche­nd aus und vollbringt neben dem nächtliche­n Kinderdien­st noch kleine Wunder. Frisch gebackene Cupcakes am Morgen zum Beispiel oder einen nach acht Jahren zum ersten Mal wieder geschrubbt­en Fußboden. Reitman übernimmt den neuen Schwung in die Inszenieru­ng, präsentier­t Tully als eine Mischung zwischen cooler Mary Poppins und gutge- launter Super Nanny. Und bald Marlos beste Freundin.

Ausgerechn­et dieses Naheverhäl­tnis – man entdeckt denselben Musikgesch­mack oder dieselben Lieblingsd­okusoaps – führt jedoch gleichzeit­ig zu ersten Irritation­en. Denn verwandten Seelen haftet im Kino immer auch etwas Unheimlich­es an, weil es seit jeher vom Individual­ismus und der Freiheit des Einzelnen erzählt.

Die Reitman und Cody bereits ereilte Kritik, Tully festige längst überholte Rollenbild­er, indem ihr Film ein im Grunde reaktionär­es Frauen- und Familienbi­ld zeichne, ignoriert dieses fast eherne Gesetz des Mainstream­kinos. Die Rettung der Familie, nach wie vor einer der wichtigste­n ideologisc­hen Bausteine Hollywoods, fordert ihre Opfer – das für Marlo eben darin besteht, sich von der ihr zugeschrie­benen Aufgabe und der Alleinvera­ntwortung zu verabschie­den.

Dass es nach diesem Kraftakt, der auch noch eine dramaturgi­sche Volte schlägt, für Marlo ein Happy End geben sollte, kommt nicht überrasche­nd. Ob es tatsächlic­h ein solches ist, sollte man selbst entscheide­n. Jetzt im Kino

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Eine Frau unter Einfluss: Charlize Theron gibt sich als überforder­te Mutter geschlagen.

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