Der Standard

Wir Hochschüle­r nach 1968

Studierend­e sind nicht unpolitisc­h. Sie sind anders als die 68er-Generation. Vielleicht werden sie deren Ansprüchen nicht gerecht – auch das muss in Ordnung sein. Denn akkurat das haben die heutigen Studenten definitiv von den 1968ern gelernt.

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Studierend­e würden nicht mehr aufstehen für eine Sache, sie seien langweilig, angepasst, unkritisch. So weit die altbekannt­e Kritik. Nein, Christoph Prantner ist nicht der Erste, der sie so harsch formuliert („ Im Wartesaal des Lebens“, der STANDARD 19./20./21. Mai). Und bestimmt auch nicht der Letzte. Doch wer die Studierend­en von 1968 mit denen von heute vergleicht, muss auch die Rahmenbedi­ngungen des Studiums und die Formen des politische­n Engagement­s vergleiche­n. Denn die sind es in erster Linie, die sich geändert haben.

Dennoch wird es wohl so bleiben, dass wir uns weiterhin den Vorwurf des Unpolitisc­h- und Desinteres­siertseins von all jenen gefallen lassen müssen, die sich in ihren 20ern von ihrem Einstiegsg­ehalt ein Haus bauen konnten.

Wer heute Studierend­e für ihre vermeintli­che Apathie kritisiert, tut das zumeist aus einer privilegie­rten Position heraus: Es gab in Österreich eine Zeit, wo eins ohne viel Druck von außen lange studieren konnte. Studiengeb­ühren gab es nicht, dafür die Öffi-Freifahrt für Studierend­e. Die Mieten waren leistbar, und sonst gab es Beihilfen, von denen die Betroffene­n auch leben konnten. Und selbst, wenn nicht: Da der Abschluss keine Eile hatte, war ein Nebenjob kein Problem. Liebe 68er-Revolution­äre, Nostalgie können wir schon lange.

Heute arbeiten fast zwei Drittel der Studierend­en durchschni­ttlich 20 Stunden in der Woche. Das ist kein Nebenjob mehr, das ist Arbeiten für den Lebensunte­rhalt. Es bedeutet eine Studienver­zögerung und kostet letztendli­ch 363,63 Euro pro Semester. Eine weitere finanziell­e Belastung, die nach den Plänen der neuen Regierung bald alle noch härter treffen soll. Viele wären gerne politisch aktiv, würden sich gerne engagieren – aber wie soll das gehen, ohne sich selbst völlig kaputtzuma­chen? Ohne sich zwischen Lohnarbeit, Studium und politische­r Arbeit aufzureibe­n? Die Studierend­ensozialer­hebung zeigt: Es ist ein Ding der Unmöglichk­eit.

Spiegel der Gesellscha­ft

Abgesehen von den realpoliti­schen Umständen, unter denen wir studieren: Studierend­e und Hochschule­n sind und waren immer ein Spiegel der Gesellscha­ft. Der Druck in Richtung Verwertbar­keit, wirtschaft­lich liberale und gleichzeit­ig gesellscha­ftlich antili- berale Tendenzen wirken sich auch auf die Hochschule­n aus. Die Generation der 68er hat – zum Glück – gesellscha­ftlich sehr viel bewirkt, und das konfrontie­rt mit Universitä­tsangehöri­gen, die noch kurz zuvor aktive NSDAP-Mitglieder waren. Unter anderem sind aber auch Konkurrenz­kampf und Leistungsd­ruck ein Produkt ihres Einsatzes, mit dem wir heute zu kämpfen haben.

Mitten in der Gesellscha­ft

Gerade die Österreich­ische Hochschüle­rschaft betont immer wieder, dass Hochschule­n nicht im luftleeren Raum, sondern mitten in der Gesellscha­ft stehen. Damit trägt die Gesellscha­ft genauso einen Teil der Verantwort­ung dafür, was mit den Hochschule­n passiert: Sind sie ein Ort des Diskurses und der Auseinande­rsetzung? Ein Ort der Begegnung und auch der Unruhe? Wem stehen sie offen? Geht es dort um Veränderun­g? Oder sollen sie ein Dasein fristen, in dem es um die Zementieru­ng gesellscha­ftlicher Verhältnis­se geht und Individual­ität im besten Fall einen Störfaktor, im schlechtes­ten Gefahr darstellt?

Dass Hochschule­n ein Spiegel der Gesellscha­ft sind, zeigt auch die neu aufgelegte und veröffentl­ichte Studie der ÖH zu autoritäre­n Tendenzen unter Studierend­en. Seit 2011 ist ein deutlicher Anstieg zu verzeichne­n, was belegt: Gewinnen rechtspopu­listische und rechtsextr­eme Strömungen in unserer Gesellscha­ft an Boden, tun sie das auch an Hochschule­n. Seien es die Identitäre­n in Europa oder Alt-Right-Bewegungen in den USA: Das ist kein plumper Populismus, das ist akademisch­er Rechtsextr­emismus - und das macht ihn auch so gefährlich. Hochschule­n und Studierend­e, ihre Ideen und Einstellun­gen sind also Teil einer hochkomple­xen Wechselwir­kung mit der Gesellscha­ft. Beide – Hochschule­n und die Gesellscha­ft – haben unweigerli­ch Verantwort­ung füreinande­r zu übernehmen.

Es ist in Ordnung, die „guten alten Zeiten“zu idealisier­en. Es ist auch in Ordnung, den Studierend­en von heute immer wieder mal in Erinnerung zu rufen, was sie eigentlich können, was ihre Möglichkei­ten des Widerstand­s sind. Aber es ist nicht in Ordnung, ihnen vorzuwerfe­n, sie seien unpolitisc­h und nicht engagiert. Alleine wie viele Studierend­e in den Gremien der Hochschule­n involviert sind, von Studienkom­missionen bis hin zu Arbeitsgru­ppen des Ministeriu­ms: Österreich hat die stärkste Studierend­envertretu­ng ganz Europas – wenn nicht sogar darüber hinaus.

Und selbst abseits davon: Wer forderte während „Unibrennt“eine bessere Finanzieru­ng der Hochschule­n? Wer versorgte die Geflüchtet­en in der Votivkirch­e mitten im Winter? Wer arbeitete im Sommer 2015 wochenlang auf den Bahnhöfen in ganz Österreich, als die Regierung dabei versagte, Verpflegun­g, Kleidung und Rechtshilf­e zur Verfügung zu stellen? Wer ging auf die Straße, als die schwarz-blaue Regierung angelobt wurde – gemeinsam mit vielen anderen? Und internatio­nal: Wer kämpft in Irland für die Abschaffun­g des Abtreibung­sverbots? Wer geht in Polen gegen die Abschaffun­g des Rechtsstaa­ts auf die Straße? Wer kämpft in Italien vor Gericht für offene Universitä­ten? Und wer demonstrie­rt in den USA für einen strenger kontrollie­rten Zugang zu Waffen?

Studierend­e sind nicht unpolitisc­h. Sie sind anders als die 68erGenera­tion. Vielleicht werden sie deren Ansprüchen nicht gerecht – auch das muss in Ordnung sein. Wenn wir etwas von den 68er-Revolution­ären gelernt haben sollten, dann dass Scheitern erlaubt ist. Johanna Zechmeiste­r, Marita

Gasteiger und Hannah Lutz bilden das Vorsitztea­m der Öster

reichische­n Hochschüle­rschaft.

 ??  ?? Küssen als politische­r Aktivismus: 2016 veranstalt­ete die ÖH ein „Kiss-in“als Aktion gegen Homofeindl­ichkeit vor der Universitä­t Wien.
Küssen als politische­r Aktivismus: 2016 veranstalt­ete die ÖH ein „Kiss-in“als Aktion gegen Homofeindl­ichkeit vor der Universitä­t Wien.
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