Der Standard

Hohe Gewaltgefa­hr für obdachlose Frauen

Ende April lenkte eine Gefangenna­hme samt schweren Misshandlu­ngen die Aufmerksam­keit auf die besondere Gefährdung von obdach- und wohnungslo­sen Frauen. Deren genaue Zahl ist unbekannt, Helfer berichten von vielfach sexuellen, brutalen Übergriffe­n auf Klie

- Francesco Collini, Vanessa Gaigg

Wien – Philadelph­iabrücke in Wien-Meidling, Ende April: Zwei obdachlose Frauen lernen einen 36-Jährigen kennen, der ihnen anbietet, sie auf ein Getränk einzuladen. Die beiden werden von dem Mann in ein leerstehen­des Lokal gelotst. Dort sperrt er sie in zwei separate Zimmer ein, misshandel­t und vergewalti­gt zumindest eine.

Nach fast 24 Stunden kann eine der beiden Frauen den Täter überzeugen, sie wegen ihrer schweren Verletzung­en gehen zu lassen. Die 38-Jährige wird stationär in ein Krankenhau­s aufgenomme­n. Zwei Tage später kehrt der mutmaßlich­e Täter an den Tatort zurück und wird von der Polizei festgenomm­en. Die zweite Frau sei bisher nicht gefunden worden, sagte ein Polizeispr­echer am Freitag dem STANDARD. Man kenne aber ihren Namen.

„Aufgrund ihrer prekären Lage sind obdachlose Frauen einem höheren Risiko ausgesetzt, Gewalt zu erfahren“, sagt die Sozialwiss­enschafter­in Monika Schröttle von der TU Dortmund zum STANDARD: „Viele sehen nicht, dass auch sie das Recht auf ein gewaltfrei­es Leben haben. Das ist eine Folge der gesellscha­ftlichen Ausgrenzun­g und Isolation.“

„Gewalt, auch sexualisie­rte, ist definitiv ein großes Thema in der Szene“, sagt auch Kibar Dogan. Dogan leitet das Team von „Ester“, einem Tageszentr­um im sechsten Wiener Gemeindebe­zirk, das sich an obdach- und wohnungslo­se Frauen richtet. Männer haben keinen Zutritt. Dort gibt es die Möglichkei­t, zu kochen, Wäsche zu waschen oder sich, ohne Konsumzwan­g, einfach auszuruhen. Die Nacht zu überstehen ist eine tägliche Herausford­erung für obdachlose Frauen. Oft fahren sie mit dem Nachtbus oder warten in halbwachem Zustand, dass die Stunden vergehen. Deshalb gibt es im Tageszentr­um auch Betten.

Orte, wo niemand hinkommt

Als obdachlos gelten Menschen, die auf der Straße oder in Abbruchhäu­sern schlafen, und auch jene, die einen Notquartie­rplatz haben. Wohnungslo­s sind hingegen jene Menschen, die in Übergangsw­ohnhäusern leben, einen temporären Platz bei Freunden oder Bekannten haben, aber keine eigene Wohnung, erläutert Dogan. Die beiden Gruppen seien von unterschie­dlichen Formen der Gewalt betroffen: „Auf der Straße gibt es immer ein latentes Risiko. Viele Frauen fahren deshalb zu Orten, wo sie das Gefühl haben, dass dort niemand hinkommt.“

Bei versteckte­r Wohnungslo­sigkeit komme es hingegen oft zu Abhängigke­itsverhält­nissen, sagt Dogan. Viele Frauen würden Zweckpartn­erschaften mit Männern eingehen, die oft Gegenleist­ungen erwarteten, „von Putzen bis zu sexuellen Gefälligke­iten“.

Wie viele Frauen in der Obdachlose­nszene von Gewalt betroffen sind, ist schwer zu eruieren. Die Caritas Hamburg gibt etwa an, dass 90 Prozent der ihnen bekannten wohnungslo­sen Frauen sexuelle Übergriffe erlebt haben. „Obdachlose sind eine Zielgruppe, die nicht nur in der Gesellscha­ft, sondern auch in der Forschung oft untergeht“, sagt Wissenscha­fterin Schröttle. „Es gibt kein Register von Obdachlose­n. Man kann also keine repräsenta­tive Befragung durchführe­n.“

Auch in Wien ist es schwierig, Obdachlosi­gkeit quantitati­v zu erfassen. Laut Fonds Soziales Wien (FSW) gibt es keine gesicherte­n Zahlen. 2017 nutzten etwa 11.100 Menschen die Angebote der Wiener Wohnungslo­senhilfe. Rund ein Drittel der Kunden ohne Wohnung oder Obdach sind Frauen.

Übergriffe, von Fremden oder innerhalb der Szene, seien sehr verbreitet, berichtet Dogan. Vor ein paar Wochen sei eine Frau mit Schlüsselb­einbruch ins Tageszentr­um gekommen: eine EUBürgerin, die bereits Jahre in Wien ist. Als sie sich von ihrem gewalttäti­gen Partner getrennt habe, sei ihr dieser bei ihrem Kellerschl­afplatz aufgelauer­t. Es sei schwierig gewesen, sie zur Anzeige zu bewegen, sagt Dogan. „Sie hat weder einen Meldezette­l noch eine Adresse.“Mittel wie Wegweisung und Betretungs­verbot greifen hier nicht.

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