Hohe Gewaltgefahr für obdachlose Frauen
Ende April lenkte eine Gefangennahme samt schweren Misshandlungen die Aufmerksamkeit auf die besondere Gefährdung von obdach- und wohnungslosen Frauen. Deren genaue Zahl ist unbekannt, Helfer berichten von vielfach sexuellen, brutalen Übergriffen auf Klie
Wien – Philadelphiabrücke in Wien-Meidling, Ende April: Zwei obdachlose Frauen lernen einen 36-Jährigen kennen, der ihnen anbietet, sie auf ein Getränk einzuladen. Die beiden werden von dem Mann in ein leerstehendes Lokal gelotst. Dort sperrt er sie in zwei separate Zimmer ein, misshandelt und vergewaltigt zumindest eine.
Nach fast 24 Stunden kann eine der beiden Frauen den Täter überzeugen, sie wegen ihrer schweren Verletzungen gehen zu lassen. Die 38-Jährige wird stationär in ein Krankenhaus aufgenommen. Zwei Tage später kehrt der mutmaßliche Täter an den Tatort zurück und wird von der Polizei festgenommen. Die zweite Frau sei bisher nicht gefunden worden, sagte ein Polizeisprecher am Freitag dem STANDARD. Man kenne aber ihren Namen.
„Aufgrund ihrer prekären Lage sind obdachlose Frauen einem höheren Risiko ausgesetzt, Gewalt zu erfahren“, sagt die Sozialwissenschafterin Monika Schröttle von der TU Dortmund zum STANDARD: „Viele sehen nicht, dass auch sie das Recht auf ein gewaltfreies Leben haben. Das ist eine Folge der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Isolation.“
„Gewalt, auch sexualisierte, ist definitiv ein großes Thema in der Szene“, sagt auch Kibar Dogan. Dogan leitet das Team von „Ester“, einem Tageszentrum im sechsten Wiener Gemeindebezirk, das sich an obdach- und wohnungslose Frauen richtet. Männer haben keinen Zutritt. Dort gibt es die Möglichkeit, zu kochen, Wäsche zu waschen oder sich, ohne Konsumzwang, einfach auszuruhen. Die Nacht zu überstehen ist eine tägliche Herausforderung für obdachlose Frauen. Oft fahren sie mit dem Nachtbus oder warten in halbwachem Zustand, dass die Stunden vergehen. Deshalb gibt es im Tageszentrum auch Betten.
Orte, wo niemand hinkommt
Als obdachlos gelten Menschen, die auf der Straße oder in Abbruchhäusern schlafen, und auch jene, die einen Notquartierplatz haben. Wohnungslos sind hingegen jene Menschen, die in Übergangswohnhäusern leben, einen temporären Platz bei Freunden oder Bekannten haben, aber keine eigene Wohnung, erläutert Dogan. Die beiden Gruppen seien von unterschiedlichen Formen der Gewalt betroffen: „Auf der Straße gibt es immer ein latentes Risiko. Viele Frauen fahren deshalb zu Orten, wo sie das Gefühl haben, dass dort niemand hinkommt.“
Bei versteckter Wohnungslosigkeit komme es hingegen oft zu Abhängigkeitsverhältnissen, sagt Dogan. Viele Frauen würden Zweckpartnerschaften mit Männern eingehen, die oft Gegenleistungen erwarteten, „von Putzen bis zu sexuellen Gefälligkeiten“.
Wie viele Frauen in der Obdachlosenszene von Gewalt betroffen sind, ist schwer zu eruieren. Die Caritas Hamburg gibt etwa an, dass 90 Prozent der ihnen bekannten wohnungslosen Frauen sexuelle Übergriffe erlebt haben. „Obdachlose sind eine Zielgruppe, die nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Forschung oft untergeht“, sagt Wissenschafterin Schröttle. „Es gibt kein Register von Obdachlosen. Man kann also keine repräsentative Befragung durchführen.“
Auch in Wien ist es schwierig, Obdachlosigkeit quantitativ zu erfassen. Laut Fonds Soziales Wien (FSW) gibt es keine gesicherten Zahlen. 2017 nutzten etwa 11.100 Menschen die Angebote der Wiener Wohnungslosenhilfe. Rund ein Drittel der Kunden ohne Wohnung oder Obdach sind Frauen.
Übergriffe, von Fremden oder innerhalb der Szene, seien sehr verbreitet, berichtet Dogan. Vor ein paar Wochen sei eine Frau mit Schlüsselbeinbruch ins Tageszentrum gekommen: eine EUBürgerin, die bereits Jahre in Wien ist. Als sie sich von ihrem gewalttätigen Partner getrennt habe, sei ihr dieser bei ihrem Kellerschlafplatz aufgelauert. Es sei schwierig gewesen, sie zur Anzeige zu bewegen, sagt Dogan. „Sie hat weder einen Meldezettel noch eine Adresse.“Mittel wie Wegweisung und Betretungsverbot greifen hier nicht.