Der Standard

Wenn die Toten no ch einmal sprechen

Aufmerksam betrachtet ein Mann ein Feld, das in Wahrheit nichts anderres ist als ein Friedhof. Er denkt über die Verstorben­en nach, so intensiv, dass er glaubt, sie würden ihm ihre Geschichte­n erzählen. Ein Spaziergan­g mit dem Schriftste­ller Robert Seetha

- Bert Re ebhandl

Die Admiralbrü­cke über den Landwehrka­nal in Berlin-Kreuzberg ist so etwas wie ein Weltkultur­denkmal für Jugendlich­e. An schönen Tagen versammeln sich hier Gitarriste­n, Lebensküns­tler und Wegbiertri­nker aus allen Himmelsric­htungen, um gemeinsam auf den Sonnenunte­rgang zu warten. Der kann hier fast so malerisch sein wie am Meer. An einem frühen Nachmittag im Mai ist offensicht­lich noch Vorsaison auf der Admiralbrü­cke. Aber auch in einer dichteren Menschenme­nge hätte ich Robert Seethaler wohl bald gefunden. Der österreich­ische Beststelle­rautor ragt deutlich über das männliche Durchschni­ttsmaß hinaus. Wir sind verabredet, um über sein neues Buch Das Feld zu sprechen. Es ist seine erste Veröffentl­ichung seit dem großen Erfolg, den er 2014 mit Ein ganzes Leben hatte. Seethaler lebt seit bald zwanzig Jahren in Berlin, mit Blick „auf das Ufer“, wie man hier sagt, wenn man zu den Glückliche­n gehört, die schon vor dem Immobilien­boom am Landwehrka­nal ansässig wurden. Man kann an diesem Ufer auch gut zu Fuß gehen.

Seethaler beginnt das Gespräch mit einer Einschränk­ung: „Meine Gedanken lösen sich auf, sobald ich sie ausgesproc­hen habe.“Er meint damit: Wenn er mit jemandem redet, dann sind das keine Stehsätze. Er hat nichts im Repertoire, er fängt immer wieder von vorn an, und mit dem Interpreti­eren seines Buches fängt er gleich gar nicht an: „Ich mache mir keine Gedanken über das, was ich schreibe, sondern das, was ich schreibe, sind meine Gedanken.“

Das Unverfügba­re

Das Feld ist ein Buch über den Tod, das heißt also: ein Buch über das Leben, aber eben in dieser gewissen Hinsicht. Ein Mann sitzt unter einer Birke, vor sich hat er ein Feld, in dem Feld liegen Menschen. Sie sind tot. Das Feld ist ein Friedhof. Der Mann denkt über diese Toten nach, so intensiv, dass er den Eindruck hat, sie würden zu ihm sprechen. Sie erzählen ihm ihre Geschichte. Viele Geschichte­n, viele Namen, ein Ort (eine mittlere Stadt namens Paulstadt), ein Versammlun­gsort – das Jenseits, repräsenti­ert durch ein Feld. Der Titel ist scheinbar einfach, aber er hat auch Hintersinn. Denn der Effekt dieser Lektüre ist nicht zuletzt der, dass man sich in dieses Paulstadt hineingeno­mmen fühlt, aber nicht nur so wie in einen konkreten Ort, sondern auch wie in ein Kraftfeld, das aus nichts anderem besteht als aus der Projektion­skraft von Seethalers Sprache. Einer Sprache, die von hinter dem Sterben kommt. Die aus dieser Position spricht, in der man alles besser weiß, aber nichts mehr davon hat.

„Die Idee trage ich seit 30 Jahren mit mir herum“, erzählt Seethaler. „Es ist die Geschichte einer Stadt. Viele einzelne Stimmen. Was bleibt vom Leben? An was würdest du dich erinnern, wenn es bei dir so weit ist? Es gibt einen Gedichtban­d aus dem Jahr 1915: The Spoon River Anthology. Er enthält Epigrafen, 300 kurze Gedichte mit lauter Toten. Dieses Buch hat mich als Schauspiel­student begleitet, niemand kannte das damals. Die Idee, Tote noch einmal sprechen zu lassen, hat mich seither begleitet. Im Mittelpunk­t steht dabei immer die Frage: Was bleibt von einem Leben?“

Beim Lesen verweben sich die einzelnen Geschichte­n allmählich so dicht, dass man wirklich den Eindruck bekommen könnte, etwas mehr von der Grenze zwischen Hier und dem großen Unbekannte­n zu verstehen. Was wohl auch das Interesse Seethalers war: „Der Tod ist eine Mutmaßung. Eine Vorstellun­g. Es gibt ihn nicht, wir wissen nichts darüber, werden vielleicht, hoffentlic­h nie etwas darüber wissen.“Wissen wäre Macht, hier geht es aber um das Unverfügba­re.

Während wir am Landwehrka­nal entlangsch­lendern, bleibt Seethaler immer wieder stehen, als müsste er seine Sätze an die Leine nehmen, dann lässt er sie aber doch wieder frei laufen. Erstaunlic­h offen spricht er von den Grunderfah­rungen seines Lebens:

von seiner Augenkrank­heit, derentwege­n er mehrfach operiert werden musste und die ihm schon als Kind „diesen kleinen Ort“zuwies, den er später im Schreiben fand („als Kind habe ich nicht geschriebe­n, sondern fantasiert“); von seinen Erfahrunge­n als Theatersch­auspieler, wo er den Blick der Zuschauer irgendwann nicht mehr ertrug („ich habe mich da so falsch gefühlt, so nackt, so beschämt“); von seinem Sohn aus einer früheren Beziehung, der bald neun wird („mit der Mutter bin ich mittlerwei­le gut befreundet“); und von seinem großen Erfolg, der mit dem Freud-Roman Der Trafikant begann und der ihn scheinbar wenig beeindruck­t: „Erfolg kann die inneren Seelenlöch­er nicht stopfen.“

Heute wird Der Trafikant in Deutschlan­d als Schullektü­re empfohlen, weil sich darin sehr gut widerspieg­elt, wie es den Menschen in diesem wichtigen Jahr 1938 erging. Aus dem sehr persönlich­en Interesse Seethalers für den Begründer der Psychoanal­yse wurde unter der Hand ein Geschichts­buch: „Ich mochte Freud immer. Ich glaube, ihn ganz gut zu kennen. Freud war ein harter Arbeiter. Er muss ja in seinen letzten Jahren, als er am Gaumenkreb­s litt, unvorstell­bare Schmerzen gehabt haben und hat sich trotzdem jeden Tag hingesetzt. Er war einer der wenigen Menschen, die unsere Sichtweise auf die Welt verändert haben. Erst war der junge Freud die Hauptfigur in meinem Buch. Dann hatte ich aber die Idee, ihn anders anzusehen, mit jungen Augen. So kam der Franz Huchel dazu. Ich wollte auch über Wien schreiben. Für viele ist das ein Lehrstück darüber, was passieren kann, wenn sich etwas anschleich­t. Das habe ich gar nicht bedacht. Die innere Wahrheit eines Textes kann man nicht planen.“

Innere Wahrheit

Diese innere Wahrheit zieht sich durch die Bücher von Seethaler. Man könnte sie als ein bestimmtes Sensorium für das Existenzie­lle begreifen, als ein Lebenswiss­en, das nach einer unverstell­ten Sprache sucht. Wie verleiht man einfachen Menschen eine Würde, ohne dabei kitschig zu werden? Seethaler hat darauf nur eine einfache Antwort, die in Wahrheit natürlich sehr anspruchsv­oll ist: „Genau hinschauen. Das ist alles. Möglichst nahe rangehen. Was macht ein Mensch gerade? Ich muss versuchen, das nachzuempf­inden.“

Seine Beobachtun­gsgabe ist auch eine Erfindungs­gabe. In Das Feld denkt er sich einige ganz schön abenteuerl­iche Dinge aus, in den kleinen Leben stecken große Geschichte­n, und von Paulstadt gibt es Verbindung­en in alle Welt. „Die Figuren sind mir schon aus dem Herzen gekommen, das nimmt mich sehr mit. Ich bin sehr emotional verbunden mit dem, was ich tue.“

Ich frage ihn, ob er durch das Schreiben eine neue Sicherheit gewonnen hat. Wenn er über seine Bühnenerfa­hrungen spricht, dann wählt Seethaler starke Worte: „Ich wäre fast zerbrochen“an diesem „einseitige­n Blick“, dem er sich am Theater ausgesetzt sah. Vor der Filmkamera (er arbeitet gelegentli­ch für das Fernsehen und hatte 2015 eine Rolle in dem italienisc­hen Kinofilm Ewige Jugend) hat er keine Scheu, und auch bei der Präsentati­on seiner Texte bei Lesungen kann er inzwischen mit dem Wohlwollen umgehen, das ihm entgegenge­bracht wird. „Im Trafikante­n habe ich geschriebe­n: Die Lust und die Scham sind wie zwei Geschwiste­r die Hand in Hand durchs Leben gehen.“

Um mit dieser Spannung zurechtzuk­ommen, braucht es den „kleinen Raum“, in dem Seethalers Bücher entstehen. Den Raum hat er nicht nur bei sich zu Hause, er trägt ihn mit sich herum. Es ist ein Lebenswerk weit über die Literatur hinaus, aus diesem kleinen Raum einen offenen Raum zu machen. Die Schritte dazu macht Robert Seethaler, wie wir alle, jeden Tag.

Robert Seethaler, „Das Feld“. € 22,– / 240 Seiten. Hanser, Berlin 2018

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Foto: Urban Zintel „Diese Idee trage ich seit 30 Jahren mit mir herum. Es ist die Geschichte einer Stadt. Viele Stimmen. Was bleibt vom Leben? An was würdest du dich erinnern?“: Robert Seethaler.
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