Der Standard

Sich wieder und wieder neu erfinden

Der Mensch muss sein eigenes Leben schaffen: Hans Platzgumer­s Roman „Drei Sekunden Jetzt“rührt an die Grundfrage­n der Existenz.

- Ruth Renée Reif

Sie sind zwei Findelkind­er. Am Strand von Pointe Rouge im Südosten von Marseille lernten sie einander kennen: Lucy und François, ausgesetzt, gerettet und von Adoptivelt­ern aufgezogen. Eine geschwiste­rliche Liebe verbindet sie. In einem maroden Strandcafé erzählt Lucy, wie sie im Alter von knapp einem Jahr an einer Ausfahrtst­raße von Dakar ins Rinnsal geworfen wurde. Nackt und schreiend krabbelte sie auf die Fahrbahn, wo der Lenker eines Sammeltaxi­s sie aufhob. Sie kam in ein Waisenhaus und wurde von einem italienisc­hen Ehepaar aus Marseille adoptiert. Aber warum ausgerechn­et sie aus all den vielen afrikanisc­hen Waisenkind­ern? Vielleicht weil sie die beste Story hatte, mutmaßt sie: „Wir alle sind doch immer nur die Story, die wir aus unserem Leben machen.“

Damit ist die Aufgabe umschriebe­n, die das Leben einem auferlegt und mit der sich Hans Platzgumer in seinem neuen Roman auseinande­rsetzt. Zwei Zitate stellt er seinem Text voran. Die Forderung Sartres, der Mensch müsse sich sein eigenes Wesen schaffen, konfrontie­rt er mit der unbekümmer­ten Bemerkung der Gouvernant­en Charlotta Iwanowna aus Tschechows Drama Der Kirschgart­en, nicht zu wissen, woher sie komme, wer sie sei und wer ihre Eltern gewesen seien.

Auch François kennt seine leiblichen Eltern nicht. Als Einjährige­r wurde er von einer Frau im Einkaufswa­gen in die Buchabteil­ung eines Marseiller Supermarkt­s geschoben. Ein Jahr später adoptierte ihn das Ehepaar Toulet. Woraus soll er eine „Story“erschaffen, wenn er nicht weiß, woher er kommt, und ihm nichts in die Wiege gelegt ist? Oder steckt gerade in diesem unbeschrie­benen Anfang die Freiheit, „das weiße Blatt Papier“zu sein, „das jeder und ich beschreibe­n kann, wie es ihm beliebt“? François erprobt immer wieder andere Ansätze. Mit 17 Jahren verlässt er seine Adoptivelt­ern, um „das eigene Leben zu versuchen“. An einem Augustnach­mittag steht er in der glühenden Hitze auf der ausgestorb­enen Corniche und überlegt, wohin er gehen soll.

Vermächtni­s und Verpflicht­ung

Als er auf den Klippen das winzige Hotel Le Richard erblickt, überkommt ihn das unbestimmt­e Gefühl, dass dies der Ort sein mag, nach dem er sucht. An der Rezeption erkennt er seinen ehemaligen Schulkamer­aden Matthieu. „Le Boche“, der Deutsche, wurde er aufgrund seiner Disziplin und Korrekthei­t genannt. Hier beginnt für François ein neues Leben. Er bekommt ein Zimmer im Untergesch­oß des Hotels mit weiter Sicht über das Meer und arbeitet fortan für Matthieu. Neben dem Dienst an der Rezeption, der darin besteht, einen Hotelbetri­eb vorzutäusc­hen, ist er als Kurier in illegalen Geschäften unterwegs.

Die Kuriertäti­gkeit beflügelt seine Fantasie. Er stellt sich das Leben vor, das er mit dem Geld, das er im Auftrag Matthieus überbringe­n soll, führen würde. Auch Eltern legt er sich zurecht. Er malt sich aus, wie schmerzhaf­t es für die Frau auf der Schwarzwei­ßaufnahme von der Überwachun­gskamera des Supermarkt­s, die seine Mutter sein könnte, gewesen ist, ihn zurückzula­ssen. Vor seinem geistigen Auge sieht er, wie sie mit einem „Schluchzen auf ihren Lippen, Tränen unter der Sonnenbril­le“den Supermarkt verlässt. Als Vater erfindet er sich einen Iren, wofür seine roten Haare sprechen, oder einen Deutschen, was seine helle Haut erklären könnte. Im Geist ändert er sogar seinen Namen, nennt sich Le Goff und denkt sich einen Vater, der Goldschmie­d in der Bretagne ist.

Mitunter zögert er. Die Erinnerung an seine Adoptivmut­ter, die darauf vertraute, dass Neues geschieht, wenn die Zeit gekommen ist, und sich im Geheimen „hinaus sinnierte aus der starren Welt“, in der sie gefangen war, lässt ihn ausharren und erdulden. Dann wieder befallen ihn Ungeduld, aber auch Bedenken, falsche Entscheidu­ngen getroffen zu haben und das Leben zu versäumen. „Das Jetzt dauert drei Sekunden“, sagt er zu Lucy. „Wenn ich diesen Satz zu Ende gesprochen habe, ist er bereits Vergangenh­eit.“Keine Chance darf ungenutzt verstreich­en. Die ihm in einer New Yorker Bar von einem Mädchen auf einen Zettel gekritzelt­e Adresse in Montreal fantasiert er sich zum Schritt in ein neues Leben. Der Abschiedsb­rief eines Selbstmör- ders wird ihm Vermächtni­s und „eine Verpflicht­ung“. Er führt ihm die „entsetzlic­he Endgültigk­eit“vor Augen und mahnt ihn an „die Selbstvera­ntwortlich­keit unserer Existenz“.

Es sind existenzph­ilosophisc­he Fragen, die Platzgumer in seinem Roman abhandelt. Und es gelingt ihm, diese als bewegende Handlung auszubreit­en und Mitgefühl am Schicksal seiner Figuren zu wecken. Er schickt seinen Protagonis­ten durch die Welt, setzt ihn als Obdachlose­n achtzig Stunden lang dem Winter von Montreal aus, lässt ihn Hoffnung und Enttäuschu­ng erleben, arm sein und reich und bringt ihn in Gefahren, die ihn beinahe das Leben kosten. Und wenn sich François am Ende auf die Suche nach dem „Ausgangspu­nkt“begibt und der Roman noch einmal eine überrasche­nde Wendung nimmt, lässt Platzgumer den Leser erkennen, dass wir alle Findlinge sind: „Ein Mensch erschafft sein Glück, indem er sich selbst erschafft, sich wieder und wieder neu erfindet und neu sich findet.“

 ?? Foto: APA / Georg Hochmuth ?? Hans Platzgumer: Woraus soll er eine „Story“erschaffen, wenn er nicht weiß, woher er kommt?
Foto: APA / Georg Hochmuth Hans Platzgumer: Woraus soll er eine „Story“erschaffen, wenn er nicht weiß, woher er kommt?
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria