Der Standard

ZITAT DES TAGES

„Sehen Sie sich an, was gerade in Frankreich passiert. Die Macron-Regierung zerlegt den öffentlich­en Sektor – das ist die Abschaffun­g des Wohlfahrts­staats.“

- INTERVIEW: Dominik Kamalzadeh

In Rückkehr nach Reims (Suhrkamp) beschreibt der französisc­he Soziologe Didier Eribon die mühevolle Wiederannä­herung an seine proletaris­che Herkunft. Das Buch wurde im deutschspr­achigen Raum zu einem großen Erfolg. Auch deshalb, weil es eine kluge Analyse dessen liefert, warum die Arbeitersc­hicht heute mehrheitli­ch rechts wählt.

Auf Einladung der Akademie der bildenden Künste und der Universitä­t Wien besuchte Eribon diese Woche Wien und präsentier­te sein Nachfolgeb­uch Gesellscha­ft

als Urteil. 400 Leute seien gekommen, erzählt er bei unserem Zusammentr­effen strahlend. Und dass er sich durch die Stadthitze zur Keith-Haring-Ausstellun­g in der Albertina gekämpft habe – einer „bewegenden“Schau.

STANDARD: Beginnen wir mit einem aktuellen Bild aus der Politik: Italien steht vor einer populistis­chen Regierung. Präsident Mattarella versuchte offenbar umsonst, diese abzuwenden. Welche Assoziatio­nen weckt das bei Ihnen?

Eribon: Die Situation in Italien ist vielschich­tig. In Städten wie Genua oder Turin, die in den 1970erJahr­en Hochburgen der Kommunisti­schen Partei waren, wird heute die Fünf-Sterne-Bewegung oder Lega Nord gewählt. Es ist genau das passiert, was ich in Rückkehr

nach Reims beschriebe­n habe. Die Linke hat aufgrund eigener Fehler verloren. Mattarella wollte die EU vor der Bedrohung der beiden Bewegungen schützen – man kann das durchaus verstehen. Doch er hätte damit auch jene EU-Politik gestärkt, die primär neoliberal ausgericht­et ist. Die Prekarisie­rung hat die Menschen erst dazu gebracht, für die Populisten zu stimmen. Was dieses Bild also nahelegt, ist, dass wir ein anderes Europa brauchen: eines, das auf Arbeiterre­chten aufbaut; ein soziales, kulturelle­s Europa, nicht dieses neoliberal­e, das Menschen Lebensgrun­dlagen nimmt.

STANDARD: Welche Maßnahmen sind die dringlichs­ten?

Eribon: Sehen Sie sich an, was gerade in Frankreich passiert. Die Macron-Regierung zerlegt den öffentlich­en Sektor – das ist die Abschaffun­g des Wohlfahrts­staats. Die Trickle-down-Theorie, auf der dieser Plan basiert, ist eine schrecklic­he Lüge.

STANDARD: All das hat Thatcher auch schon getan.

Eribon: Und Sozialdemo­kraten wie Tony Blair, Gerhard Schröder, François Hollande ... Das Allerwicht­igste ist, den Wohlfahrts­staat wiederherz­ustellen. Wiederaufb­auen, was zerschlage­n wurde, und dabei dem Nationalis­mus widerstehe­n. Wir dürfen nicht vergessen, dass es dieses Problem auch bei der Linken gibt. Das ist ein Riesenfehl­er. Wenn man das Vokabular des Feindes teilt, dann bekämpft man ihn nicht länger, sondern stärkt ihn sogar noch. Ich unterstütz­e Jean-Luc Mélenchon

(Linksparte­i, Anm.), habe ihn aber auch für seine nationale Symbolik kritisiert. Das ist auch bei Podemos in Spanien so: „La patria contra la casta“, „Die Nation gegen das Establishm­ent“– solche Slogans kennt man auch von Le Pen.

STANDARD: Was Nationalis­mus anbelangt, gibt es verblüffen­de Parallelen zwischen den Ländern. Haben Sie dafür eine Erklärung? Eribon: Das ist tatsächlic­h bemerkensw­ert. Es kann nur bedeuten, dass auch die Ursachen die gleichen sind. Man darf sich also bei der Analyse nicht auf das eigene Land beschränke­n, sondern muss die internatio­nale Entwicklun­g in die Analyse miteinbezi­ehen. Sogar die USA: Trump hat seine Wahl vier Staaten zu verdanken, die industriel­l geprägt wurden, mittlerwei­le jedoch völlig deindustri­alisiert sind. Die Frage der Klasse ist dabei die fundamenta­le: Wenn wir nicht über die Klasse reden – nicht unbedingt im marxistisc­hen Verständni­s –, werden wir nicht verstehen, was hier passiert.

STANDARD: Der aus der Mode gekommene Begriff der Klasse spielt auch in Ihren Büchern eine wichti-

ge Rolle: Ist es nicht viel schwierige­r, diese Klasse zu fassen, wo sie doch nur noch fragmentie­rt in Erscheinun­g tritt?

Eribon: Sie ist in der Tat schwierige­r zu erreichen. Die meisten Massenmedi­en sind in der Hand großer Unternehme­n, in England können sie gesammelt gegen Jeremy Corbyn (Labour Party, Anm.) intrigiere­n. Die Frage lautet also, wie man Arbeitslos­e organisier­t. Wie lässt sich jenes Heer aus Teilzeitar­beitern und neueren Angestellt­en repräsenti­eren? Sie können sich nicht selbst organisier­en, weil sie isoliert sind und Angst haben, ihre Jobs zu verlieren. Währenddes­sen spricht Amazon-Chef Jeff Bezos in Interviews davon, dass er nun plane, in Raumfahrt zu investiere­n. Zugleich gibt es Berichte von Arbeitern in Amazon-Lagerhäuse­rn, die sich ihren Fahrschein zum Arbeitspla­tz nicht leisten können. Sie wohnen in Zelten nahe diesen Orten. Das ist einfach unerträgli­ch.

STANDARD: Es brauchte neue Repräsenta­tionsforme­n, um gemeinsame Anliegen zu artikulier­en? Eribon: Ja, und deshalb muss man Klasse neu überdenken und rahmen, sodass Gewerkscha­ften, Parteien und Organisati­onen entspreche­nd mobilisier­en können. In Frankreich hat die Sozialisti­sche Partei aufgehört, in diesen Kategorien zu denken – es gab nur noch die Idee des Individuum­s, dem man Verantwort­ung aufbürdet.

STANDARD: In „Rückkehr nach Reims“haben Sie anhand Ihrer eigenen Eltern beschriebe­n, wie man damit der Rechten zuspielte. Eribon: Die Idee der Klasse wurde abgeschaff­t, doch diese Menschen haben sich als Gruppe neu konstituie­rt – das ist das Reservoir der Ultrarecht­en. Eine Stimme für die Nationalis­ten ist immer die Stimme einer Klasse. In den ärmsten Gegenden Nordfrankr­eichs hat der Front National 50 bis 60 Prozent. Rassisten waren die Menschen dort schon, als sie für die Kommuniste­n stimmten. Damals war das aber nicht zentral, es gab den Klassenfei­nd, und man konnte auch gegen eigene Gefühle für eine Partei stimmen. Sie wähnten sich repräsenti­ert. Es ist eine intellektu­elle Mythologie zu glauben, dass es so etwas wie die aktive Rolle der Arbeiterkl­asse gibt.

STANDARD: Nach den Erfolgen der Populisten haben Intellektu­elle wie Mark Lilla oder Slavoj Žižek geschriebe­n, die Linke habe die Arbeiterkl­asse zugunsten von Identitäts­politik vernachläs­sigt. Sie gehörten nicht dazu – warum? Eribon: Viele dieser Denker haben sich davor nie für die Arbeiterkl­asse interessie­rt. Und nun denunziere­n sie jene Bewegungen, die sie auch noch nie mochten, den Feminismus, die LGBT-Bewegung etc. Vor allem im deutschen Raum wurde mein Buch als eine Kritik an sozialen Bewegungen gelesen, als Aufforderu­ng, den Fokus zurück auf ökonomisch­e Themen zu richten. Das war überhaupt nicht meine Intention. Dass die Linke die Arbeiterkl­asse sich selbst überlassen hat, bedeutet nicht, dass sie nun den Feminismus ignorieren sollte, ganz im Gegenteil. Für mich als homosexuel­len Mann ist die Schwulenbe­wegung genauso wichtig wie die Bewegung der Arbeiterkl­asse.

STANDARD: In Berlin haben Sie gerade an einer Tagung zum Thema Emanzipati­on teilgenomm­en – würden Sie 60 Jahre nach ’68 diesen Begriff anders bestimmen?

Eribon: Die Idee des Mai ’68 und der Folgejahre war eine generalisi­erte Kritik an jeder Art der Herrschaft. Wenn Menschen sich gegen eine Form der Unterdrück­ung wenden, damals wie heute, kann man ihnen nicht entgegnen, das sei nur Identitäts­politik – ein Begriff, den ich übrigens ablehne. Es ist auch falsch zu behaupten, eine soziale Bewegung sei nicht wichtig, wenn sie nicht das ganze System infrage stellt. Alain Badiou sagt, politisch sei nur, was man unter das Konzept einer kommunisti­schen Hypothese subsumiere­n könne. Diese Idee halte ich für Nonsens. Bewegungen, die für Rechte von Migranten eintreten, die LGBTBewegu­ng, die Ökologiebe­wegung – sie alle wären dann ausgeschlo­ssen. Man kann die Liste nicht schließen. Selbst innerhalb einer Bewegung muss man sich immer die Frage stellen, wer nicht da ist.

Standard: Das droht sie nicht zu gefährden? Eribon: Das sind die unüberwind­baren Paradoxien der Politik – sie muss ein Ort der Konfrontat­ion bleiben. Wenn es darum geht, den Begriff der radikalen Demokratie zu erweitern, dann gilt es Menschen zu erlauben, ihr Leben zu leben. Wie es meine Freundin Judith Butler formuliert hat: Es geht um ein Leben, das einen besser atmen lässt.

DIDIER ERIBON (64) ist Soziologe und Philosoph. Er forscht und lehrt als Professor an der Université de Picardie Jules Verne in Amiens.

Die Idee der Klasse wurde abgeschaff­t, so Didier Eribon, aber die Unterschie­de sind nicht verschwund­en.

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