Der Standard

Sorgenkind Mathematik

Weil die Mathe-Zentralmat­ura heuer besonders schlecht ausfallen könnte, sollen die Aufgaben künftig weniger textlastig sein. Experten fordern eine Verschlank­ung der Lehrpläne – auch in anderen Fächern.

- URSACHENFO­RSCHUNG: Peter Mayr, Karin Riss

Für sie ist alles gutgegange­n. Raffi Souhrada hat die Mathematik-Zentralmat­ura positiv bestanden – wie übrigens alle aus ihrer Klasse an der AHS Perchtolds­dorf im Wiener Umland. Österreich­weit lief’s bei weitem nicht so gut wie für die 18-jährige Ex-Schülerin. Mit Stand Freitag vergangene­r Woche, als rund zehn Prozent der AHS- und 15 Prozent der BHS-Maturaarbe­iten an das Bildungsmi­nisterium rückgemeld­et waren, war klar: Rund 18 Prozent davon wurden als „nicht genügend“bewertet. Im Ministeriu­m sah man sich veranlasst, erste Sofortmaßn­ahmen anzukündig­en. Der Sukkus: Wer durchgefal­len ist, soll für die mündliche Kompensati­onsprüfung am 5. und 6. Juni besonders gut vorbereite­t werden. Eigentlich eine Selbstvers­tändlichke­it.

Dass das Problem tiefer liegt, ist aber auch den Experten im Bildungsmi­nisterium bewusst. Nicht zuletzt die Bildungsst­andards in der vierten und achten Schulstufe zeigten regelmäßig, dass in Mathematik Handlungsb­edarf bestehe und das Fach für viele „immer noch ein Angstfach“sei, erklärt Martin Netzer, der zuständige Abteilungs­leiter. „Wir haben hier noch wichtige Entwicklun­gen vor uns“– etwa was die Qualifizie­rung der Lehrkräfte oder die Überarbeit­ung des Lehrstoffe­s anbelange. Dabei sei gerade im Bereich der Didaktik in den letzten Jahren einiges geschehen. „Wir haben die Lehrpläne auf Kompetenzo­rientierun­g umgestellt“, erklärt Netzer und gibt zu, dass früher die Lehrer nicht ausreichen­d vorbereite­t gewesen seien. Mittlerwei­le seien die dafür nötigen Unterricht­sskills zwar seit fast zehn Jahren an den pädagogisc­hen Hochschule­n verankert, doch: „Das dauert, bis das ankommt. Wir sind hier noch mitten im ‚change process‘.“

Mittendrin oder eher ein bisserl hintennach? So sieht das nämlich Andreas Vohns vom Institut für Didaktik der Mathematik an der Uni Klagenfurt. Sein Befund: Im Rahmen der Lehreraus- und -weiterbild­ung sei „leider verabsäumt“worden, deutlicher zu machen, „dass und wie Grundkompe­tenzen längerfris­tig solide erworben werden können, statt einfach nur Prüfungsbe­ispiele vergangene­r Jahre zu pauken“. Für ihn ist klar: „Hier hat man die Pädagogen ein Stück weit alleingela­ssen.“

Die Ursachenfo­rschung bezüglich der schlechten Mathe-Ergebnisse führt zwangsweis­e auch zur Frage nach der Aktualität der Lehrpläne. Zehn Jahre beträgt die durchschni­ttliche Überlebens­dauer eines solchen Wissenskan­ons. Etwa in diesem Rhythmus tagen Lehrer-Arbeitsgru­ppen zu den inhaltlich­en Grundsatze­ntscheidun­gen, danach erfolgt eine Begutachtu­ng durch externe Experten, und erst dann werden Änderungen festgelegt.

Wie schwierig es ist, dabei zu einer Einigung zu kommen, davon kann man im Ministeriu­m ein Lied singen. Vor Jahren habe es etwa eine große Debatte über „Kegelschni­tte“gegeben. Die Emotionen der leidenscha­ftlichen Mathematik­er gingen hoch, schlussend­lich setzten sich die Kegelschni­ttbefürwor­ter durch. Sie sind bis heute Teil des Lehrplans.

Nicht nur Papier und Bleistift

Darüber, was wichtig ist, scheiden sich eben die Geister. „Wir bekommen immer noch E-Mails, in denen Lehrkräfte erklären, dass sie technische Hilfsmitte­l wie (das

Softwarepr­ogramm, Anm.) Geogebra ablehnen. Manche wollen nicht einmal einen Taschenrec­hner erlauben, sondern nur Papier und Bleistift“, erzählt Netzer von seinen Korrespond­enzen. Doch die einmal eingeschla­gene Richtung will man im Ministeriu­m nicht mehr verlassen: „Es ist wichtig, den Vorgang zu verstehen, aber man muss nicht immer wieder alles eigenhändi­g durchrechn­en“, hält Netzer ein Plädoyer für Kompetenzo­rientierun­g.

Ähnlich sieht das der Klagenfurt­er Didaktik-Experte. Andreas Vohns kann auch die Klagen darüber nicht teilen, dass bei der Zentralmat­ura Textverstä­ndnis gefragt war: „Später im Leben werden mathematis­che Fragestell­ungen sehr oft im Anwendungs­kontext erfordert sein.“Vohns hat „durchaus Sympathien“für eine teilzentra­le Lösung. Die Grundfrage laute: Was sollen Schüler können, und wie kommen sie dorthin? Das verpflicht­ende Minimum könnte ein Stück herunterge­fahren werden: „Wer will, kann zusätzlich individuel­l mehr Leistung zeigen.“Vorausgese­tzt, dass später an der Uni fehlendes mathematis­ches Wissen für bestimmte Studien nachgeholt werden könne. Ob der Lehrstoff insgesamt hinterfrag­t werden sollte? „Wer genau schaut, wird Stellen finden, wo weniger mehr wäre.“Oder wo es „Zeit zum Vertiefen“brauche.

Genau die fehlt aber, weiß auch Rainer Saurugg. Der Mathematik-Nachhilfel­ehrer wundert sich nicht über die schlechten Zwischener­gebnisse bei der Matura: „Das beginnt mit dem Umstieg auf die Oberstufe“, erklärt er, „weil das Zentralmat­ura-Design plötzlich auf die fünfte Klasse runterproj­iziert wurde.“Das berge Vor- wie Nachteile: „Ich glaube, dass jetzt mehr hängenblei­bt.“Allerdings: Drei Mathestund­en pro Woche würden für ein solch verständni­sbasiertes Lernen nicht reichen.

Also noch mehr lernen? Erol Yildiz, Leiter des Instituts für Erziehungs­wissenscha­ft an der Universitä­t Innsbruck, warnt: „Alle stehen unter Stress: die Lehrer, die Schüler. Ich habe das Gefühl, dass das in den letzten Jahren zugenommen hat.“Was müsse anders werden? „Zuerst gehört geklärt, welches Wissen vermittelt werden soll. Der Lehrplan muss entrümpelt werden. Dann müsste sich auch die Schule öffnen. Viele schauen ja aus wie Krankenhäu­ser.“

Das Bildungswe­sen neige zu einem „gewissen Strukturko­nservativi­smus“. Bildung habe aber nichts mit Normierung zu tun – bloß „genau die passiert ständig“. Auch das Leben außerhalb der Schule müsse stärker einbezogen werden. Nur: „Wenn ich für die Organisati­on eines Schulausfl­uges Tage brauche, vergeht die Lust darauf.“Yildiz hofft auf eine Reform: „Machbar ist das schon, wenn man will.“

Im Kern gleich geblieben

Zu viel, zu schwer oder schlicht unnötig. Neu sind diese Kritikpunk­te allesamt nicht, weiß Bernhard Hemetsberg­er vom Institut für Bildungswi­ssenschaft an der Uni Wien. „Historisch betrachtet gibt es immer wieder Überfracht­ungsdebatt­en. Das war in der Zeit der Napoleonis­chen Kriege so, in der Zwischenkr­iegszeit und auch in den 1950erJahr­en“, sagt er. Heute seien wir wieder in einer solchen Phase: „Die Frage lautet immer: Was soll Schule leisten? Was ist die Utopie, wie Schule aussehen soll?“Ein Blick in die Lehrpläne zeige: „Der Kern der Schule ist seit der Einführung der Schulpflic­ht unter Kaiserin Maria Theresia eigentlich gleich geblieben“, erklärt Hemetsberg­er. Wesentlich geändert hätten sich nur die Randfächer: So ist etwa Schönschre­iben Teil des Deutschunt­errichts geworden – und EDV ist dazugekomm­en.

Ernüchtern­d fällt die Antwort darauf aus, was an Schulwisse­n fürs spätere Leben wichtig ist – wenn man Mathe-Nachhilfel­ehrer Saurugg fragt: „Fürs tägliche Leben reicht der Stoff der Volksschul­e.“

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