Der Standard

Gewerkscha­ft droht mit Streiks wegen Zwölfstund­entag

Im ÖGB brodelt es: Die türkis-blaue Arbeitszei­treform empört Gewerkscha­fter. Eisenbahne­r und Metaller könnten über die Kollektivv­erträge vorangehen und versuchen, die neuen Regeln auszuhebel­n. Aber ist der ÖGB bereit für die Konfrontat­ion?

- ck iSto o: Fot András Szigetvari

Wien – Der Vorsitzend­e der Gewerkscha­ft Pro-Ge und FSG-Chef Rainer Wimmer droht mit Streiks während der EU-Präsidents­chaft Österreich­s. Man werde sich den Zeitpunkt für Kampfmaßna­hmen gegen die Arbeitszei­tverlänger­ung auf zwölf Stunden genau ansehen. „Wie wir wissen, gibt’s ganz besondere Zeitfenste­r, wenn Österreich im europäisch­en Blickpunkt steht“, erklärte Wimmer am Freitag. Betriebsve­rsammlunge­n und die Großdemons­tration am Samstag seien nur der erste Schritt.

Bei einer dringliche­n Anfrage der SPÖ im Nationalra­t zum Arbeitszei­tgesetz am Freitag sorgte die Abwesenhei­t von Kanzler Sebastian Kurz für Aufregung. (red)

Rainer Wimmer ist auf Tournee. Wien, Steiermark, Oberösterr­eich, Vorarlberg. Der frühere Elektriker bereist dieser Tage die Industrieb­etriebe Österreich­s. Er spricht vor Mitarbeite­rn im BMW-Motorenwer­k in Steyr. Er besucht Betriebsve­rsammlunge­n bei Opel und Manner in Wien. Er tritt in den Voest-Werken in Linz und in Donawitz auf. Wimmer ist Chef der Produktion­sgewerksch­aft Pro-Ge. Er wendet sich in diesen Tagen mit der immer gleichen Botschaft an die Arbeiter: Die türkis-blaue Regierung starte mit dem neuen Arbeitszei­tgesetz einen „Frontalang­riff“auf Arbeitnehm­er.

Sollte das Parlament die Reform wie erwartet kommende Woche beschließe­n, müsse man sich wehren. Bei den Betriebsve­rsammlunge­n legt die Gewerkscha­ft den Mitarbeite­rn eine Resolution zur Beschlussf­assung vor. „Wir werden uns alles, was den Arbeitnehm­erinnen weggenomme­n wird, auf der betrieblic­hen Ebene und bei den anstehende­n Kollektivv­ertragsver­handlungen zurückhole­n“, heißt einer der Sätze darin. Laut Gewerkscha­ftern wurde die Resolution inzwischen in 200 Betrieben verabschie­det.

Seitdem die türkis-blaue Koalition Mitte Juni einen Gesetzesen­twurf ins Parlament eingebrach­t hat, der die meisten der strikten Voraussetz­ungen für Zwölfstund­entage streicht, sehen die Gewerkscha­fter rot. ÖVP und FPÖ sind zwar zurückgeru­dert. Arbeitnehm­er sollen die elfte und zwölfte Stunde ohne Angabe von Gründen ablehnen können, heißt es im neuesten Entwurf für das Gesetz.

Am Zorn des ÖGB hat das nichts geändert. Die Industrie boxe das Gesetz mithilfe der Regierung durch und durchbrech­e damit die sozialpart­nerschaftl­iche Tradition. Die Arbeitnehm­ervertrete­r warnen vor Verlusten bei Überstunde­nzuschläge­n.

Gewerkscha­fter reden nun von Streik, von „roten Linien“, die überschrit­ten wurden. Für heute, Samstag, ruft der ÖGB zu einer Großdemons­tration in Wien auf. Ist das ein Sturm im Wasserglas oder wird der ÖGB beginnen, aggressive­r aufzutrete­n? Falls ja, wie könnte die Strategie aussehen? Nach zahlreiche­n Gesprächen mit Spitzenfun­ktionären lassen sich Konturen eines Plans erkennen. Die Demonstrat­ion am Samstag richtet sich demnach nicht nur gegen die Regierung, sondern wird als Probelauf gesehen. Der ÖGB will herausfind­en, wie sehr das Thema Arbeitszei­t wirklich aufregt und wer tatsächlic­h bereit ist, aus Protest auf die Straße zu gehen. Nach der Demo, in den Urlaubsmon­aten Juli und August, hätten Aktionen wenig Sinn, sagen Spitzenfun­ktionäre.

Das ändert sich mit Herbst. Dann soll der Fokus weniger auf gesamtöste­rreichisch­en Maßnahmen liegen, einen landesweit­en Streik etwa hält man beim ÖGB für sinnlos. Ein solcher ließe sich höchstens ein oder zwei Tage aufrechter­halten. Die Gewerkscha­ft will das neue Arbeitszei­tgesetz vielmehr über einzelne Kollektivv­erträge aushebeln.

Als Zugpferde könnten der Gewerkscha­ft die Metaller und Eisenbahne­r dienen. Die sind bestens organisier­t, der Arm ihrer Vertretung ist dementspre­chend stark: Rund 90 Prozent der Eisenbahne­r gehören der Gewerkscha­ft an, heißt es beim ÖGB. Zum Vergleich: Beim Handel liege diese Quote bei zehn bis 15 Prozent.

Metaller gelten auch als stark, weil die heimischen Industrieb­etriebe, die Maschinen- und Autobauer, gut aufgestell­t und profitabel sind. Sie können bei einem Arbeitskam­pf nur schwer mit Abwanderun­g drohen. Bei der Eisenbahn ist das gar nicht möglich.

Die Zugpferde des ÖGB

Und: Die Zeit ist günstig, Die Metaller verhandeln ihren Kollektivv­ertrag immer im September. Die Bahnbedien­steten hätten sich bereits im Juni auf den KV einigen sollen, doch die Gespräche wurden abgebroche­n – wegen der Unsicherhe­iten rund um das Arbeitszei­tgesetz. Wenn der ÖGB den Druck erhöhen will, wird er Eisenbahne­r und Metaller zeitgleich unter dem Motto „Wir holen uns alles zurück“verhandeln lassen.

Eine entscheide­nde Frage, die der ÖGB bis dahin klären muss, ist, wieweit er bereit ist zu gehen, wenn seine Forderunge­n nicht erfüllt werden. Eine aggressive Strategie birgt aus Sicht der Genossen Chancen und Risiken.

Österreich gilt als eines der weltweit letzten Länder mit ausgeprägt­er Sozialpart­nerschaft: Arbeitgebe­r und Arbeitnehm­er lösen Konflikte fast immer am Verhandlun­gstisch. Streiks gibt es fast nie. Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln hat errechnet, dass zwischen 2007 und 2016 je 1000 Arbeitnehm­er in Frankreich 123 Arbeitstag­e gestreikt haben. In Finnland waren es 40, in Deutschlan­d sieben Tage. In Österreich genau zwei Tage.

Eine Folge der sozialpart­nerschaftl­ichen Tradition ist, dass die Gewerkscha­ft kaum als Bewegung wahrgenomm­en wird, selbst wenn sie erfolgreic­h verhandelt, wie Roman Hebenstrei­t bekennt, der die Gewerkscha­ft Vida leitet, zu der die Eisenbahne­r gehören. Der Kampf gegen das Arbeitszei­tgesetz biete die Chance, sichtbarer zu werden, sagt Hebenstrei­t.

Das könnte dem ÖGB dabei helfen seinen Mitglieder­schwund nachhaltig umzukehren: 1,2 Millionen Menschen gehören dem ÖGB heute an, das sind um 400.000 weniger als im Jahr 1990.

In Branchen mit schwachen Vertretung­en werden dem Versuch, bei der Arbeitszei­t Druck auszuüben, auch ÖGB-intern nur wenig Chancen eingeräumt. Wenn es aber Eisenbahne­rn und Metallern gelingen würde, günstige Regelungen zu erkämpfen, wäre das wie eine Werbeaktio­n für die Gewerkscha­ft.

Das Risiko auf der anderen Seite ist, dass eine Auseinande­rsetzung und ein Arbeitskam­pf auch verloren gehen können und die Ausgangsla­ge schwierig ist.

„Eine der größten Herausford­erungen ist, dass wir aus einer Kultur des Konsenses kommen“, sagt Gewerkscha­fter Hebenstrei­t.

Weder Arbeitnehm­er noch Funktionär­e sind gewohnt zu mobilisier­en. Es gibt wenig Erfahrung damit, wann Mitarbeite­r sich bloß aufregen und wann sie auch bereit sind, etwas zu tun. Wenn wirklich gestreikt wird, sind damit auch Lohneinbuß­en verbunden. Der ÖGB verfügt zwar über einen Streikfond­s. Von diesem ist wenig bekannt. Typischerw­eise können solche Fonds Mitarbeite­rn nur einen Teil ihres Lohns ersetzen.

Als Angstszena­rio gilt unter Gewerkscha­ftern bis heute der Streik der britischen Minenarbei­ter 1984 und 1985. Die National Union of Mineworker­s (NUM) versuchte damals mit einer Arbeitsnie­derlegung die Schließung von Steinkohle­minen zu bekämpfen. Die Regierung unter Margaret That- cher hielt dagegen. Mit einem rigorosen Polizeiein­satz wurden Streikende daran gehindert, Minen stillzuleg­en, in denen sich Arbeiter dem Protest nicht angeschlos­sen hatten. Die Regierung hortete Kohle für die Energiever­sorgung, weshalb die Streiks landesweit nur begrenzte Wirkung hatten.

Wer einen Kampf wagt

Nach einem Jahr musste die NUM aufgeben. Die Niederlage erledigte die bis dahin mächtigste Gewerkscha­ft Großbritan­niens finanziell und politisch: Der Streikfond­s war aufgebrauc­ht, der Einfluss war weg. Richard Hyman, Professor für industriel­le Beziehunge­n an der London Scool of Economics, sagt, dass die britische Gewerkscha­ft ohnehin an Einfluss eingebüßt hätte. Doch die Niederlage von 1985 habe den Niedergang der britischen Gewerkscha­ftsbewegun­g beschleuni­gt, so Hyman.

Wer mit österreich­ischen Gewerkscha­ftsfunktio­nären spricht, hört zwischen der rhetorisch­en Kampfberei­tschaft Unsicherhe­it heraus. Wie viel man riskieren soll, wissen die Genossen selbst nicht so ganz, zumal Unabwägbar­keiten dazukommen. Die öffentlich­e Meinung ist ein wichtiger Faktor bei einer Auseinande­rsetzung. Der Zwölfstund­entag regt viele auf. Sie wissen aber auch, dass Kanzler Sebastian Kurz ausgezeich­nete Umfragewer­te genießt.

Einig scheinen sich Funktionär­e darin zu sein, dass Nichtstun keine Option ist. Produktion­sgewerksch­after Wimmer droht bereits mit Streiks während der EUPräsiden­tschaft. Die Betriebsve­rsammlunge­n, die er derzeit besucht, werden nur unterbroch­en, nicht geschlosse­n, wie er betont. Die Versammlun­gen können also jederzeit fortgesetz­t werden. „Wir werden uns aussuchen, wann wir kämpfen werden“, sagt er. Zumindest Wimmer klingt auch entschloss­en dabei.

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