Der Standard

Die Erasmus- Generation

- Stefan Weiss

Die starke Union des Jahres 2038 hatte viele Vordenker. 20 Jahre davor, als durch ökonomisch­e Verwerfung­en zwischen Nord und Süd sowie kulturelle Differenze­n zwischen Ost und West alles zu scheitern drohte, richteten Intellektu­elle, Philosophe­n, Wissenscha­fter leidenscha­ftliche Appelle an die proeuropäi­sche Jugend. Sie entwarfen positive Zukunftssz­enarien, die bei der digital bestens vernetzten Erasmus-Generation auf fruchtbare­n Boden fielen. 2038 hat sich das Studierend­enAustausc­hprogramm als wichtigste­r Motor der europäisch­en Einigung erwiesen. Vor einigen Jahren hat man es, begleitet durch eine massive Werbekampa­gne in Schulen und öffentlich-rechtliche­n Medien, auch Lehrlingen und Maturanten ans Herz gelegt.

Das Bekenntnis zu einer gemeinsame­n europäisch­en Identität, die auf den Errungensc­haften der Aufklärung basiert, teilen dadurch weite Teile der Gesellscha­ft. Von Athen bis Stockholm und von London bis Warschau wird auf allen Ebenen Solidaritä­t gelebt. Man denkt europäisch im Fest wie im Protest. Nationale Sportmanns­chaften wurden durch europäisch­e Auswahlen ergänzt, Europaflag­ge und -hymne stehen stolz neben nationaler Symbolik. Weltweit einzigarti­g stellen öffentlich­e Gelder kulturelle Vielfalt sicher. Der neuen Generation ist es gelungen, Sentimenta­lität für ein geeintes Europa zu wecken.

Die Trennung von Kirche und Staat bezweifelt heute kaum noch jemand, das Gespenst des Islamismus wurde durch die Förderung liberaler Muslimverb­ände vertrieben. Die neuen Europäer erfreuen sich an Vielsprach­igkeit, an deutsch-französisc­her Philosophi­e, italienisc­her Kunst, skandinavi­schem Design oder Musik aus Österreich. Im Gedenken an den 100 Jahre zurücklieg­enden Zivilisati­onsbruch erneuert die EU ihr Kernverspr­echen: nie wieder Krieg – weder hier noch anderswo.

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